Christmasland (German Edition)
hatte sich ihr kastanienbraunes, mit grauen Strähnen durchsetztes Haar um die Faust gewickelt. Ihre Augen waren geschlossen, ihr schmales, hageres Gesicht wirkte entspannt.
Der Gasmaskenmann drehte den Kopf und schaute Sigmund an. Sig hatte noch nie etwas so Grauenhaftes gesehen. Es war wie in diesem alten Film mit V incent Price, in dem ein Wissenschaftler sich mit einem Insekt kreuzte. Der Kopf des Mannes war eine Gummiknolle mit glänzenden Plastikscheiben anstelle von Augen und einem grotesken V entil statt eines Mundes.
Irgendetwas stimmte nicht mit Sigs Gehirn. Es war vielleicht sogar noch schlimmer als ein Schlaganfall. Hatte man bei einem Schlaganfall Halluzinationen? Einer der deutschen Soldaten war in seinem Haus unterwegs und entführte gerade seine Frau. V ielleicht hatte Sig deshalb Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Die Deutschen waren in Haverhill eingefallen und hatten die Straße mit Senfgas bombardiert. Allerdings roch es gar nicht nach Senf, sondern nach Gebäck.
Der Gasmaskenmann hielt einen Finger hoch, um ihm zu bedeuten, dass er gleich wieder da sein würde, ging dann weiter den Flur entlang und schleifte Giselle an den Haaren hinter sich her. Erneut begann er zu singen.
»There was an old lady who swallowed a goat. Just opened her throat and swallowed a goat. What a greedy bitch!«
Sig sackte über dem Hocker zusammen. Seine Beine … er spürte seine Beine nicht mehr. Er versuchte, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen und stach sich stattdessen mit dem Finger ins Auge.
Stiefel stampften über den Werkstattboden.
Es kostete Sig gewaltige Anstrengung, den Kopf zu heben. Er hatte das Gefühl, ein großes Gewicht läge darauf, ein zehn Kilo schweres Eisengewicht.
Der Gasmaskenmann beugte sich über das Modell von V erdun, die Hände in die Hüften gestemmt, und betrachtete die kraterübersäte, mit Stacheldraht durchzogene Ruinenlandschaft. Jetzt erkannte Sig auch die Kleidung des Mannes: Er trug den ölfleckigen Blaumann des Klimaanlagenreparateurs.
»Das kleine V olk!«, sagte der Gasmaskenmann. »Ich liebe das kleine V olk! Hoch auf den luft’gen Bergen und tief im finst’ren Tal, da gehen wir nicht jagen, da spukt es allemal.« Er sah zu Sig hinüber und fuhr fort: »Mr. Manx nennt mich einen Reimdämon. Ich sag, ich bin ein Dichter, wenn auch kein ganz dichter. Wie alt ist Ihre Frau, Mister?«
Eigentlich hatte Sig nicht vor zu antworten. Er wollte fragen, was mit Giselle passiert war. Aber stattdessen sagte er: »Ich habe sie 1976 geheiratet. Meine Frau ist neunundfünfzig. Fünfzehn Jahre jünger als ich.«
»Ganz schön clever. Sich eine so junge Frau zu angeln. Keine Kinder?«
»Nein. In meinem Kopf kriechen Ameisen umher.«
»Das kommt vom Sevofluran«, sagte der Gasmaskenmann. »Ich habe es durch die Klimaanlage hereingepumpt. Dass Ihre Frau kinderlos ist, sehe ich auf den ersten Blick. Ihre Titten sind viel zu hart und klein. Frauen, die Kinder bekommen haben, haben nicht solche Titten.«
»Warum tun Sie das?«, fragte Sig. »Weswegen sind Sie hier?«
»Sie wohnen direkt gegenüber von V ic McQueen«, sagte der Gasmaskenmann. »Außerdem haben Sie eine Garage für zwei Autos, aber nur einen Wagen. Wenn Mr. Manx zurückkehrt, braucht er einen Platz zum Parken. Die Räder an dem Wraith drehen sich rund herum, rund herum, rund herum. Die Räder an dem Wraith drehen sich rund herum, überall in der Stadt. «
In diesem Moment vernahm Sig de Zoet eine Reihe von Geräuschen – ein Zischen, ein Kratzen und ein Poltern –, die sich ständig wiederholten. Er konnte nicht genau feststellen, woher sie kamen. Sie schienen sich direkt in seinem Kopf zu befinden, so wie auch das Lied des Gasmaskenmannes eine Zeit lang nur in seinem Kopf existiert zu haben schien. Das Zischen, Kratzen und Poltern vertrieb alle Gedanken daraus.
Der Gasmaskenmann blickte auf ihn hinunter. » V ictoria McQueen dagegen sieht so aus, als hätte sie richtige Mamititten. Sie haben sie schon aus der Nähe gesehen. Was halten Sie davon?«
Sig sah zu ihm hoch. Er verstand, was der Gasmaskenmann ihn gefragt hatte, aber er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. V ic McQueen war erst acht Jahre alt; in Sigs V orstellung war sie noch ein Kind, ein kleines Mädchen mit einem Jungenfahrrad. Hin und wieder kam sie zu Besuch, um seine Figürchen anzumalen. Es war eine Freude, ihr dabei zuzusehen – sie arbeitete mit ruhiger Hingabe, die Augen leicht zusammengekniffen, als blickte sie in
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