Christmasland (German Edition)
aus wie ein Motorrad aus einem alten Biker-Film – nicht einer von denen, in denen Peter Fonda die Hauptrolle spielte, mit den nackten Frauen und ausgewaschenen Farben –, sondern einer der älteren, zahmeren Schwarz-Weiß-Filme, in denen es haufenweise V erfolgungsjagden gab und ständig über die Regierung geschimpft wurde. Für V ic war es Liebe auf den ersten Blick.
Wayne strich mit der Hand über den Sitz und betrachtete die grauen Fusseln auf seiner Handfläche.
»Dürfen wir die behalten?«
Als würde es sich um eine zugelaufene Katze handeln.
Natürlich durften sie die Maschine nicht behalten. Sie gehörte ihnen nicht. Sie war Eigentum der alten Dame, von der sie das Haus gemietet hatten.
Und dennoch.
Dennoch hatte V ic das Gefühl, als würde das Motorrad bereits ihr gehören.
»Wahrscheinlich funktioniert es nicht mal«, sagte sie.
»Na und?«, sagte Wayne mit der Sorglosigkeit eines Zwölfjährigen. »Dann reparierst du es eben. Papa kann dir erklären, wie das geht.«
»Das hat er schon.«
Acht Jahre lang hatte sie versucht, Lous Freundin zu sein. Es war nicht immer leicht gewesen, aber sie hatten auch schöne Zeiten erlebt, vor allem bei der gemeinsamen Arbeit in der Werkstatt.
Lou hatte Motorräder repariert, und V ic hatte ihnen eine neue Lackierung verpasst. Im Radio lief Soundgarden, und im Kühlschrank standen kalte Bierflaschen. Sie hatte Lou bei den Reparaturarbeiten die Lampe gehalten und eine Menge Fragen gestellt. Und er hatte ihr alles über Zünder, Bremsleitungen und V erteiler erzählt.
Damals war sie gern mit ihm zusammen gewesen und sogar fast mit sich selbst im Reinen.
»Also, denkst du, dass wir es behalten können?«, fragte Wayne noch einmal.
»Es gehört der alten Frau, die uns das Haus vermietet hat. Ich könnte sie fragen, ob sie es uns verkauft.«
»Das wird sie bestimmt«, sagte er. Er schrieb UNSERES in den Staub an der Seite des Benzintanks. »Welche alte Frau hat schon Bock, auf so einer Maschine herumzukurven?«
»Na, die, die neben dir steht, zum Beispiel«, sagte V ic und wischte mit der Handfläche das Wort UNSERES weg.
Der Staub wurde von einem Strahl frühmorgendlichen Sonnenlichts erfasst, ein Wirbeln goldener Flocken.
Unter der Stelle, wo UNSERES gestanden hatte, schrieb V ic MEINS . Wayne hob sein iPhone und schoss ein Foto.
Haverhill
N ach dem Mittagessen nahm sich Sigmund de Zoet immer gern eine Stunde Zeit, sich seinen Spielzeugsoldaten zu widmen. Es war das Highlight des Tages. Er lauschte den Berliner Philharmonikern, die das Frobisher-Sextett mit dem Titel Wolkenatlas spielten, und bemalte dabei die deutschen Soldaten mit ihren Helmen, den altmodischen Mänteln und Gasmasken. Auf einer zwei mal zwei Meter großen Sperrholzplatte hatte er ein Miniaturschlachtfeld von V erdunsur-Meuse aufgebaut: eine weite Fläche voller blutgetränktem Schlamm, verbrannter Bäume, zerzauster Büsche, Stacheldraht und Leichen.
Sig war sehr stolz auf seine Arbeit. Er malte Goldränder auf Epauletten, mikroskopisch kleine Messingknöpfe auf Mäntel und Rostflecken auf Helme. Wenn er die Figürchen nur sorgfältig genug anmalte, wirkten sie beinahe lebendig, so als könnten sie sich jeden Moment in Bewegung setzen und die Linie der Franzosen angreifen.
Und heute erwachten die Figuren tatsächlich zum Leben.
Sig war gerade damit beschäftigt, einen verwundeten Hunnen anzumalen, der sich an die Brust griff, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Er hatte ein wenig rote Farbe auf der Pinselspitze und wollte sie auf die Finger des deutschen Soldaten tupfen, doch als er sich dem Hunnen mit dem Pinsel näherte, wich dieser vor ihm zurück.
V erwundert betrachtete Sigmund den zweieinhalb Zentimeter großen Soldaten im grellen Schein der Gelenkarmlampe. Erneut führte er den Pinsel zur Figur, doch wieder zuckte der Soldat zurück.
Sig versuchte es ein drittes Mal – halt still, du kleines Miststück, dachte er – und verfehlte den Soldaten diesmal gänzlich. Stattdessen malte er einen roten Strich auf den metallenen Lampenschirm.
Und es war nicht mehr nur der eine Soldat, der sich bewegte. Inzwischen waren sie alle zum Leben erwacht und sprangen wild umher.
Sigmund rieb sich mit der Hand über die Stirn, die mit einem Schweißfilm überzogen war. Er atmete tief ein und roch Lebkuchenduft.
Ein Schlaganfall, dachte er. Ich habe einen Schlaganfall. Und zwar dachte er es auf holländisch , weil ihm im Moment das Englische völlig entfallen war, obwohl er
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