Christmasland (German Edition)
einen langen Tunnel und versuchte zu erkennen, was sich am anderen Ende befand.
»Das ist doch ihr Haus auf der anderen Straßenseite, oder?«, fragte der Gasmaskenmann.
Sig nahm sich vor, es ihm nicht zu sagen. Nicht zu kollaborieren. »Kollaborieren« war das Wort, das ihm in den Sinn kam, nicht »kooperieren«.
»Ja«, hörte er sich sagen. Und danach: »Warum habe ich Ihnen das erzählt? Warum beantworte ich Ihre Fragen? Ich bin kein Kollaborateur.«
»Das liegt auch am Sevofluran«, sagte der Gasmaskenmann. »Sie würden nicht glauben, was die Leute mir so alles erzählen, wenn sie ein bisschen von dem guten alten Lebkuchenrauch eingeatmet haben. Eine alte Omi, mindestens vierundsechzig, hat mir erzählt, dass sie nur einmal im Leben wirklich gekommen ist, und zwar als es ihr einer in den Hintern besorgt hat. V ierundsechzig! Igitt, was?« Er kicherte; das unschuldige, sich überschlagende Lachen eines Kindes.
»Ist das ein Wahrheitsserum?«, fragte Sig. Es kostete ihn unglaublich viel Kraft, diese Frage auszusprechen. Jedes Wort war wie ein Eimer Wasser, den er aus einem tiefen Brunnen heraufziehen musste.
»Nicht ganz. Aber es wirkt entspannend. Der Geist wird offen für Einflüsterungen. Warten Sie nur, bis Ihre Frau wieder wach geworden ist. Sie wird so gierig meinen Schwanz lutschen, als wäre sie am V erhungern. Es wird ihr wie das Natürlichste der Welt vorkommen! Keine Sorge. Sie werden nicht zusehen müssen. Bis dahin sind Sie längst tot. Sagen Sie mal, wo ist V ic McQueen eigentlich? Ich beobachte das Haus schon den ganzen Tag. Es sieht so aus, als wäre niemand zu Hause. Sie ist doch nicht etwa über den Sommer weggefahren, oder? Denn das wäre wirklich Mist. Mist, der nicht zu ändern ist!«
Aber Sigmund de Zoet antwortete nicht. Er war abgelenkt. Ihm war nämlich endlich aufgegangen, woher das Zischen, Kratzen und Poltern kam.
Es stammte gar nicht aus seinem Kopf. Es war die Schallplatte – das Wolkenatlas -Sextett, gespielt von den Berliner Symphonikern.
Das Stück war zu Ende.
Lake Winnipesaukee
W ährend Wayne bei der Ferienfreizeit war, arbeitete V ic an ihrem neuen Buch – und an der Triumph.
Ihre Lektorin hatte vorgeschlagen, eine Weihnachtsausgabe von Search Engine herauszubringen. Anfangs schreckte V ic vor der V orstellung zurück wie vor dem Gestank saurer Milch. Aber nachdem sie ein paar Wochen darüber nachgedacht hatte, begriff sie, wie unglaublich verkäu fl ich so ein Buch sein könnte. Außerdem würde Search Engine mit rot-weiß gestreifter Mütze und Schal total süß aussehen. Dass ein Roboter, der dem Motor einer Kawasaki V ulcan nachempfunden war, eigentlich keinen Schal brauchte, spielte dabei keine Rolle. Es würde gut aussehen. V ic war Comic-Zeichnerin, keine Ingenieurin – die Realität konnte ihr gestohlen bleiben.
Sie räumte eine der hinteren Ecken der Remise frei, stellte ihre Staffelei auf und begann zu zeichnen. Am ersten Tag arbeitete sie drei Stunden mit ihrem blauen NPB -Stift und zeichnete einen See, dessen Oberfläche teilweise zugefroren war. Search Engine und seine kleine Freundin Bonnie saßen aneinandergeklammert auf einer Eisscholle. Mad Möbius Stripp befand sich unter der Wasseroberfläche in einem U-Boot, das aussah wie ein Krake, und die Tentakel des U-Boots zerrten an der Eisscholle. Zumindest glaubte V ic, dass es Tentakel waren. Wie immer hörte sie bei der Arbeit laut Musik und hatte den V erstand ausgeschaltet. Beim Zeichnen war ihr Gesicht so glatt und faltenlos wie das eines Kindes. Und genauso sorglos.
Sie arbeitete so lange, bis sie Krämpfe in der Hand bekam, dann hörte sie auf und schlenderte ins Freie. Sie streckte sich ausgiebig und ließ ihre Wirbel knacken. Schließlich ging sie ins Häuschen, um sich einen Eistee einzugießen – das Mittagessen ließ sie ausfallen; meist aß sie nicht viel, wenn sie an einem neuen Buch arbeitete –, und kehrte dann in die Remise zurück, um über die nächste Seite nachzudenken. Wahrscheinlich konnte es nicht schaden, nebenher ein wenig an der Triumph zu basteln.
Eigentlich hatte sie nur etwa eine Stunde an dem Motorrad arbeiten und dann zu ihrem Buch zurückkehren wollen. Letzten Endes war sie jedoch drei Stunden damit beschäftigt und holte Wayne zehn Minuten zu spät vom Feriencamp ab.
Danach teilte sie sich die Zeit so ein, dass sie vormittags an ihrem Buch und nachmittags an dem Motorrad arbeitete. Sie stellte sich einen Wecker, damit sie rechtzeitig loskam. Ende Juni hatte sie
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