Christmasland (German Edition)
diese Sprache seit seinem fünften Lebensjahr sprach.
Er griff nach der Tischkante, um sich aufzurichten – langte daneben und fiel hin. Der Länge nach schlug er auf dem Walnussholzboden auf und spürte in seiner rechten Hüfte etwas zerbrechen, wie einen trockenen Ast unter einem deutschen Springerstiefel. Das ganze Haus erzitterte von der Wucht seines Aufpralls, und er dachte immer noch auf holländisch: Jetzt wird bestimmt Giselle kommen.
»Hulp«, rief er. »Ik heb een slag.« Irgendetwas stimmte damit nicht, aber es dauerte einen Moment, bis ihm einfiel, was es war. Das Niederländische. Giselle würde es nicht verstehen. »Giselle! Ich bin gestürzt!«
Doch sie kam nicht herbei und reagierte auch sonst nicht. Er überlegte, womit sie wohl gerade beschäftigt sein könnte, dass sie ihn nicht hörte. Womöglich war sie mit diesem Klimaanlagenreparateur nach draußen gegangen. Der Handwerker, ein dicker, kleiner Kerl namens Bing Irgendwas, war in einem ölfleckigen Blaumann aufgetaucht, um eine Kondensatorspirale auszutauschen, die von der Firma zurückgerufen wurde.
Hier unten auf dem Boden fühlte Sig sich wieder einigermaßen Herr seiner Sinne. Als er noch auf dem Stuhl gesessen hatte, war ihm die Luft dickflüssig und überhitzt vorgekommen und hatte irgendwie süßlich nach Lebkuchen gerochen. Hier unten war es dagegen kühler, und alles schien sich normal zu verhalten. Zwischen ein paar Staubflocken unter dem Arbeitstisch entdeckte er einen Schraubenzieher, den er seit ein paar Monaten vermisste.
Seine Hüfte war gebrochen. Ganz sicher. Er spürte den Riss im Knochen wie einen heißen Draht unter der Haut. Wenn es ihm gelingen würde, sich aufzurichten, könnte er seinen Arbeitshocker als Gehhilfe benutzen und damit vielleicht in den Flur gelangen.
Womöglich könnte er nach dem Reparateur rufen. Oder nach V ic McQueen auf der anderen Straßenseite. Aber, nein. V icky war mit ihrem Sohn nach New Hampshire gefahren. Wenn er es bis zum Telefon in der Küche schaffen würde, könnte er den Notdienst rufen und hoffen, dass Giselle ihn fand, bevor der Krankenwagen in die Einfahrt einbog. Er wollte ihr keinen unnötigen Schrecken einjagen.
Sig streckte einen seiner dürren Arme nach dem Hocker aus und zog sich daran hoch, wobei er sich Mühe gab, sein linkes Bein nicht zu belasten. Es tat trotzdem weh. Er hörte Knochen knacken.
»Giselle!«, schrie er noch einmal mit kehliger Stimme. » Gott dam, Giselle!«
Er beugte sich über den Hocker, hielt sich mit beiden Händen daran fest und holte tief und zittrig Luft. Er nahm erneut den weihnachtlichen Lebkuchenduft wahr – beinahe wäre er zurückgezuckt.
Ein Schlaganfall, dachte er noch einmal. Genau so war es, wenn man einen Schlaganfall bekam. Das Gehirn funktionierte nicht mehr richtig, und man roch Dinge, die nicht da waren, während die Welt um einen verblasste und dahinschmolz wie schmutziger Schnee in einem warmen Frühlingsregen.
Er wandte sich der Tür zu, die höchstens zwölf Schritte entfernt war. Sie stand weit offen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Giselle ihn nicht gehört hätte, wenn sie sich irgendwo im Haus befand. Sie war entweder draußen bei der Klimaanlage oder gerade einkaufen oder tot.
Er ließ sich die drei Möglichkeiten durch den Kopf gehen – Klimaanlage, einkaufen oder tot – und musste zu seiner Beunruhigung feststellen, dass ihm die letzte gar nicht so abwegig erschien.
Er hob den Hocker an, setzte ihn ein Stück nach vorn und humpelte hinterher. Nachdem er sich nun aufgerichtet hatte, wurde ihm wieder ein wenig schwindelig. Seine Gedanken schwebten dahin wie Gänsefedern in einem warmen Lufthauch.
Ein seltsames Lied ging ihm durch den Kopf: »There was an old lady who swallowed a fly. I don’t know why she swallowed the fly – Perhaps she’ll die!« Nur dass das Lied immer lauter wurde, bis es vom Ende des Flurs her zu kommen schien.
»There was an old lady who swallowed a spider that wriggled and jiggled and tickled inside her«, sang die Stimme. Sie klang hoch und seltsam hohl, aus würde sie aus weiter Ferne herüber hallen, wie durch einen Belüftungsschacht.
Sig blickte auf und sah einen Mann mit einer Gasmaske an der offenen Tür vorbeigehen. Der Mann zog Giselle an den Haaren hinter sich her. Giselle schien das nicht zu stören. Sie hatte ein adrettes blaues Leinenkleid und dazu passende blaue Hackenschuhe an, aber während der Mann sie weiterschleppte, verlor sie einen davon. Der Gasmaskenmann
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