Christmasland (German Edition)
nichts unternehmen sollten, und selbst Bing verstand die Gründe dafür. Die verschlafene Straße war nicht verschlafen genug, und sie würden nur eine einzige Chance erhalten, die Hure mit ihren Hurentätowierungen und ihrem lügenden Hurenmund in ihre Gewalt zu bringen. Mr. Manx hatte zwar keine Drohungen ausgesprochen, aber Bing wusste, wie sehr ihm die Sache am Herzen lag und was die Strafe wäre, wenn Bing ihm einen Strich durch die Rechnung machte: Mr. Manx würde ihn nicht mit ins Christmasland nehmen. Im Leben nicht.
Der Junge stieg eine Stufe hoch, dann eine zweite.
»Kleiner Stern, ich bitte dich«, flüsterte Bing, schloss die Augen und machte sich bereit. »Erfülle einen Wunsch für mich: Schick das Scheißgör weg! Wir sind noch nicht bereit.«
Er atmete nach Gummi riechende Luft ein, sein Finger krümmte sich um den Abzug der großen Pistole.
Und dann ertönte eine laute Stimme von der anderen Straßenseite: »Nein! Wayne, nein!«
Bings Nervenenden pochten, und beinahe wäre ihm die Waffe aus der verschwitzten Hand geglitten. Ein riesiges silbernes Boot von einem Auto rollte mit funkelnden Felgen die Straße hinunter und hielt direkt vor V ictoria McQueens Haus. Das Fenster war heruntergerollt, und der Fahrer streckte einen fleischigen Arm hinaus und winkte dem Jungen zu.
»He!«, rief er noch einmal. »He, Wayne!«
Er hatte he gerufen, nicht nein. In seiner Nervosität hatte Bing ihn falsch verstanden.
»Wie geht’s, Junge?«, sagte der dicke Mann.
»Papa!«, schrie das Kind. Es vergaß, dass es eigentlich die Stufen hatte hinaufsteigen und klingeln wollen, drehte sich um und lief zur Straße, gefolgt von dem riesenhaften Schoßhund.
Bing sackte vor Erleichterung in sich zusammen. Seine Knie wurden weich. Er lehnte die Stirn gegen die Tür und schloss die Augen.
Als er sie wieder öffnete und durch den Spion sah, lag das Kind in den Armen des V aters. Der Mann war groß und unwahrscheinlich fett, mit Beinen wie Telefonmasten. Das war wohl Louis Carmody. Bing hatte sich im Internet über die Familie informiert, hatte aber kein Foto von dem V ater gesehen. Er war erstaunt. Er konnte sich nicht vorstellen, wie Carmody und McQueen miteinander Sex hatten – der Fettsack würde sie doch glatt plattwalzen. Bing war auch nicht eben der Fitteste, aber neben Carmody hätte er wie ein Athlet ausgesehen.
Wie hatte der Mann McQueen dazu gebracht, mit ihm ins Bett zu gehen? Geld vielleicht? Bing hatte sich McQueen genau angesehen, und es würde ihn nicht überraschen. Sie hatte eine Menge Tätowierungen. Und bei einer Frau bedeutete das stets: Sie war für Geld zu haben.
Eine leichte Brise erfasste die Papiere, die der Junge sich angeschaut hatte, und ließ sie unter das Auto des dicken Mannes segeln. Als Carmody den Jungen wieder absetzte, blickte dieser sich nach den Papieren um, bückte sich aber nicht, um sie aufzuheben. Die Papiere bereiteten Bing Sorge. Sie hatten etwas zu bedeuten. Sie waren wichtig.
Eine von Narben entstellte, dürre junge Frau, die wie ein Junkie aussah, hatte sie vorbeigebracht und sie McQueen geben wollen. Bing hatte das Ganze vom Wohnzimmer aus beobachtet. V ictoria McQueen war vom Auftauchen der Junkie-Frau nicht begeistert gewesen. Sie hatte sie angeschrien und das Gesicht verzogen. Dann hatte sie ihr die Papiere an den Kopf geworfen. Ihre Stimmen waren laut genug gewesen, dass Bing ein Wort hatte verstehen können: »Manx«. Er hätte Mr. Manx am liebsten geweckt, aber in dessen derzeitigem Zustand war das nicht möglich.
Weil er eigentlich gar nicht schläft, dachte Bing, schob diesen unangenehmen Gedanken aber beiseite.
Einmal war er ins Schlafzimmer gegangen und hatte Mr. Manx betrachtet, der nur in Boxershorts und ohne Decke auf dem Bett lag. Ein großes Y war in seine Brust geschnitten, ein großer schwarzer Faden verlief über die Naht. Die Wunde, eine glänzende V ertiefung in Mr. Manx’ Fleisch, war schon fast verheilt, aber es traten immer noch Eiter und rosafarbenes Blut aus. Eine ganze Weile lang hatte Bing dagestanden, ohne irgendein Atemgeräusch zu hören. Manx’ Mund hing offen und dünstete den leicht süßlichen, chemischen Geruch von Formaldehyd aus. Seine Augen waren ebenfalls offen und starrten trübe und leer an die Decke. Bing hatte sich an den alten Mann angeschlichen und seine Hand berührt. Sie war kalt und steif gewesen wie die eines Toten, und Bing hatte die abscheuliche Gewissheit verspürt, dass Mr. Manx gestorben war. Aber dann hatten
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