Christmasland (German Edition)
toll. Fett und blöd.
»Die Frau hatte eine Mappe mit ein paar Zeitungsartikeln dabei. Ich hab ein bisschen was davon gelesen. Mama hätte das wahrscheinlich nicht so toll gefunden. Du wirst es ihr doch nicht erzählen, oder?«
»Was für Artikel?«
»Darüber, wie Manx gestorben ist.«
Lou nickte. Langsam begann er zu begreifen.
Manx war drei Tage nach V ics Mutter gestorben. Lou hatte es damals im Radio gehört. V ic war erst fünf Monate aus der Entzugsklinik heraus und hatte das ganze Frühjahr über ihrer Mutter beim Sterben zugesehen, deshalb hatte Lou darauf verzichtet, ihr davon zu erzählen, um ihr nicht gleich wieder den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Später hatte er es tun wollen, aber irgendwie hatte sich nie die Gelegenheit ergeben, und dann war der richtige Zeitpunkt vorbei gewesen. Er hatte zu lange gewartet.
Maggie Irgendwas musste herausgefunden haben, dass V ic das Mädchen war, das Charlie Manx damals entkommen war. Das einzige Kind, das überlebt hatte. V ielleicht war sie Journalistin oder eine True-Crime-Autorin. Womöglich hatte sie V ic um eine Stellungnahme gebeten – die ganz sicher nicht druckreif ausgefallen war.
»Über Manx brauchen wir uns nicht den Kopf zu zerbrechen. Er hat mit uns nichts zu tun.«
»Aber warum sollte dann jemand mit Mama über ihn reden wollen?«
»Da musst du deine Mutter fragen«, sagte Lou. »Ich sollte wirklich nichts darüber sagen. Sonst bekomme ich nachher Schwierigkeiten. V erstehst du?«
Denn das war das Abkommen, das er mit V ictoria McQueen getroffen hatte, nachdem sie erfahren hatte, dass sie schwanger war, und beschlossen hatte, das Kind zu behalten. Sie ließ Lou den Namen für das Kind aussuchen, erklärte sich bereit, mit ihm zusammenzuleben und sich um das Kind zu kümmern. Sie sagte ihm, dass sie seine Frau werden wolle, wenn auch nicht offiziell, und nur unter der Bedingung, dass der Junge nichts von Charlie Manx erfuhr. Es sei denn, sie beschloss, ihm davon zu erzählen.
Damals hatte Lou zugestimmt, weil ihm das vernünftig vorgekommen war. Was er nicht bedacht hatte, war, dass sein Sohn so nie das Beste über seinen V ater erfahren würde. Nämlich, dass sein V ater einmal in seinem Leben eine Heldentat vollbracht hatte. Er hatte ein hübsches Mädchen auf den Rücksitz seines Motorrades gezogen und war mit ihm vor einem Monster geflohen. Und als das Monster sie eingeholt und einen Mann in Brand gesteckt hatte, hatte Lou die Flammen gelöscht – wenn auch zu spät, um dem Mann das Leben zu retten. Aber sein Herz war am rechten Fleck gewesen, und er hatte nicht einen Moment über die Gefahr nachgedacht, in die er sich brachte.
Lou mochte sich gar nicht vorstellen, was für ein Bild sein Sohn von ihm hatte: Für ihn war er wahrscheinlich eine wandelnde Witzfigur, die sich mehr schlecht als recht damit über Wasser hielt, anderer Leute Autos aus Schneewehen zu ziehen und Getriebe zu reparieren. Und er hatte V ic nicht halten können.
Er wünschte sich eine zweite Chance. Er wünschte sich, vor Waynes Augen noch einmal jemand retten zu können. Es würde ihm nichts ausmachen, mit seinem großen, fetten Körper eine Kugel abzufangen, solange Wayne Zeuge davon wurde. Dann könnte er wenigstens glorreich verbluten.
Gab es einen erbärmlicheren – und zugleich tiefer empfundenen – menschlichen Wunsch als den, eine zweite Chance zu erhalten?
Sein Sohn stieß ein Seufzen aus und drehte sich auf den Rücken.
»Also, erzähl mir von deinem Sommer«, sagte Lou. »Was gefällt dir bisher am besten?«
»Dass niemand auf Entzug ist«, sagte Wayne.
In der Bucht
L ou wartete auf den Beginn des Feuerwerks, als V ic, die Hände in den Taschen ihrer Armeejacke, auf ihn zukam. »Kann ich mich zu dir setzen?«, fragte sie.
Er betrachtete die Frau, mit der er zwar nie verheiratet gewesen war, die ihm aber dennoch unglaublicherweise ein Kind geschenkt und seinem Leben einen Sinn gegeben hatte. Die V orstellung, ihre Hand zu halten, sie zu küssen oder zu lieben, erschien ihm immer noch so unwahrscheinlich, wie von einer radioaktiven Spinne gebissen zu werden.
Nun, so unwahrscheinlich vielleicht doch nicht, schließlich war sie nicht ganz zurechnungsfähig. Und Schizophrene warfen sich allen möglichen Leuten an den Hals.
Wayne saß mit ein paar anderen Kindern auf der Steinmauer am Hafen. Das gesamte Hotel war herausgekommen, um sich das Feuerwerk anzuschauen. Die Leute drängten sich vor den alten roten Backsteingebäuden mit Blick auf
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