Christmasland (German Edition)
Wie viel Zeit bleibt Wayne?«
»Das weiß ich leider nicht. Was hast du der P-P-P-Po-Po-Polizei erzählt?«
»So viel wie nötig. Dich habe ich nicht erwähnt. Ich habe mir Mühe gegeben, alles glaubhaft klingen zu lassen, aber ich denke nicht, dass sie es mir abgenommen haben.«
» V ic. B-b-bitte. Ich würde dir gern helfen. Sag mir, was ich tun kann.«
»Du hast mir schon geholfen«, sagte V ic und legte auf.
Wayne war nicht tot. Und ihr blieb noch etwas Zeit. Sie wiederholte es im Geist immer wieder: Nicht tot, nicht tot, nicht tot.
Am liebsten wäre sie ins Schlafzimmer zurückgegangen und hätte Lou wachgerüttelt und ihm gesagt, dass er das Motorrad unbedingt reparieren musste, dass sie es dringend brauchte, aber wahrscheinlich hatte er nur ein paar Stunden geschlafen, und seine graue Gesichtsfarbe gefiel ihr gar nicht. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass er nicht ganz ehrlich gewesen war, was seinen Zusammenbruch im Logan Airport anging.
V ielleicht sollte sie selbst einen Blick auf die Maschine werfen. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, was daran so kaputt sein sollte, dass er es nicht hinbekam. Schließlich hatte das Motorrad gestern noch funktioniert.
Sie verließ das Badezimmer und warf das Handy aufs Bett. Es glitt von der Überdecke und landete mit einem lauten Scheppern auf dem Boden. Lous Schultern zuckten bei dem Geräusch, und V ic hielt den Atem an, aber er wachte nicht auf.
Sie öffnete die Schlafzimmertür und zuckte selbst überrascht zusammen. Tabitha Hutter stand direkt davor. Sie hatte wohl gerade anklopfen wollen.
Die beiden Frauen blickten einander an, und V ic dachte: Irgendetwas stimmt nicht. Ihr zweiter Gedanke war natürlich, dass sie Wayne irgendwo in einem Straßengraben gefunden hatten, mit aufgeschlitzter Kehle, sein Körper blutleer.
Aber Maggie hatte gesagt, er sei noch am Leben, und Maggie wusste Bescheid. Es musste also etwas anderes sein.
V ic blickte in den Flur, wo Detective Daltry und ein Bundespolizist standen.
» V ictoria«, sagte Tabitha in einem ruhigen Ton. »Wir müssen uns unterhalten.«
V ic trat in den Flur hinaus und schloss vorsichtig die Schlafzimmertür.
»Was ist los?«
»Können wir irgendwo ungestört reden?«
V ic sah erneut zu Daltry und dem uniformierten Polizisten hinüber. Der Polizist war eins achtzig groß, braun gebrannt und hatte einen Stiernacken. Daltry verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Lippen zusammen. In einer Hand hielt er eine Sprühdose – vermutlich Pfefferspray.
V ic nickte in Richtung der Tür von Waynes Zimmer. »Da drinnen?«
Sie folgte Hutter in den kleinen Raum, in dem Wayne in den Wochen vor der Entführung gewohnt hatte. Seine Bettdecke, die mit Szenen aus Die Schatzinsel bedruckt war, war zurückgeschlagen, als wartete sie nur darauf, dass er ins Bett schlüpfte. V ic setzte sich auf den Rand der Matratze.
Komm zurück, sagte sie im Geist. Am liebsten hätte sie die Bettdecke ans Gesicht gehoben, um den Duft des Jungen einzuatmen. Komm zu mir zurück, Wayne.
Hutter lehnte sich gegen die Kommode, sodass man die Glock unter ihrem Arm sehen konnte. V ic blickte auf und sah, dass Hutter neue Ohrringe trug: goldene Fünfecke mit dem Superman-Emblem darauf.
»Lassen Sie Lou bloß nicht diese Ohrringe sehen«, sagte V ic. »Es kann sein, dass er dann die Beherrschung verliert und Sie spontan umarmt. Nerds sind sein Kryptonit.«
»Sie müssen mir endlich die Wahrheit sagen«, begann Hutter.
V ic beugte sich vor und zog den Plüschaffen unter dem Bett hervor. Er hatte graues Fell und lange Arme und trug eine Lederjacke und einen Motorradhelm. Grease Monkey stand auf einem Schildchen auf seiner linken Brust. V ic konnte sich nicht erinnern, den Affen gekauft zu haben.
»Was meinen Sie?«, fragte sie, ohne Hutter anzusehen. Sie legte den Affen aufs Bett, mit dem Kopf auf das Kissen, dort wo eigentlich Wayne hingehörte.
»Sie haben mir nicht die Wahrheit gesagt. Nicht ein einziges Mal. Und ich weiß nicht, warum. V ielleicht gibt es da Dinge, über die Sie nicht reden wollen. V or allem in einem Raum voller Männer. Oder Sie denken, dass Sie Ihren Sohn oder auch jemand anderes schützen. Ich weiß nicht, was in Ihnen vorgeht, aber ich möchte, dass Sie es mir jetzt auf der Stelle sagen.«
»Ich habe nicht gelogen.«
»Hören Sie auf, mich zu verarschen«, sagte Tabitha Hutter in ihrem ruhigen, beherrschten Ton. »Wer ist Margaret Leigh? In was für einem V erhältnis stehen Sie zu ihr?
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