Christmasland (German Edition)
Bilder haben mich sofort in ihren Bann gezogen. Sie spielen wirklich in derselben Liga wie Escher. Aber dann habe ich genauer hingesehen, und mir ist da so ein Gedanke gekommen. Die Zeichnungen sind für ein Weihnachtsbuch, oder?«
V ic verspürte den Drang fortzulaufen – sich vor ihren eigenen Zeichnungen zu verstecken –, aber sie unterdrückte ihn. Am liebsten hätte sie gesagt, dass sie diese Bilder noch nie zuvor gesehen hatte, dass sie nicht wusste, woher sie kamen. Beides wäre im Grunde sogar wahr gewesen, aber sie hielt dennoch den Mund. Als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme müde und desinteressiert.
»Ja. Eine Idee des V erlags.«
»Na ja«, sagte Hutter. »Denken Sie – ich meine, halten Sie es für möglich –, dass das hier das Christmasland ist? Dass der Mann, der Ihren Sohn entführt hat, weiß, woran Sie gerade arbeiten, und dass es irgendeine V erbindung gibt zwischen Ihrem neuen Buch und dem, was wir bei der Suche nach dem iPhone Ihres Sohnes gesehen haben?«
V ic starrte auf die erste Illustration. Search Engine und Bonnie saßen auf einer Eisscholle irgendwo im nördlichen Polarmeer und klammerten sich aneinander. V ic erinnerte sich, dass sie einen mechanischen Tintenfisch gezeichnet hatte, der von Mad Möbius Stripp gesteuert wurde und versuchte, die beiden von der Eisscholle zu zerren. Auf der Zeichnung waren jedoch stattdessen Kinder mit toten Augen zu sehen, deren knochenweiße Klauen sich durch die Risse im Eis schoben. Ihre grinsenden Münder enthüllten nadelfeine, gebogene Fangzähne.
Auf einer anderen Zeichnung durchquerte Search Engine ein Labyrinth aus riesigen Zuckerstangen. V ic erinnerte sich, dass sie das Bild in einem tranceartigen Zustand zur Musik der Black Keys gezeichnet hatte. Woran sie sich nicht erinnerte, waren die Kinder, die mit Scheren in den Händen in den Ecken und Winkeln des Labyrinths kauerten. Und auch nicht an die kleine Bonnie, die blind herumstolperte und sich die Hände vor die Augen hielt. Sie spielen das Scherenspiel, ging es ihr durch den Kopf.
»Ich denke nicht«, sagte V ic. »Diese Zeichnungen hat noch niemand zu Gesicht bekommen.«
Hutter fuhr mit dem Daumen über den Rand des Papierstapels und sagte: »Es hat mich überrascht, dass Sie mitten im Sommer Weihnachtsszenen malen. Denken Sie nach. Könnte Ihre Arbeit in irgendeiner Weise damit zusammenhängen, dass …«
»Dass Charlie Manx beschlossen hat, sich an mir zu rächen, weil ich ihn ins Gefängnis gebracht habe?«, fragte V ic. »Ich glaube nicht. Es ist doch ganz einfach. Ich habe Manx verärgert. Und jetzt will er es mir heimzahlen. Sind wir hier fertig? Ich würde mich gern ein bisschen hinlegen.«
»Natürlich. Sie sind sicher müde. Und wer weiß? V ielleicht fällt Ihnen ja noch etwas ein, wenn Sie sich ein wenig ausgeruht haben.«
Hutter klang gelassen, aber V ic glaubte, einen Zwischenton wahrzunehmen, der klarmachte, dass sie beide wussten, dass V ic noch mehr zu erzählen hatte.
V ic erkannte das Ferienhaus nicht wieder. An den Sofas im Wohnzimmer lehnten weiße Magnettafeln. Auf einer war eine Karte des Nordostens der V ereinigten Staaten zu sehen, auf einer anderen war mit rotem Filzstift ein Zeitstrahl aufgemalt. Überall lagen mit Ausdrucken vollgestopfte Mappen. Hutters Nerdbrigade saß auf einem der Sofas nebeneinander wie Studenten vor einer Xbox. Einer redete in einen Bluetooth-Ohrhörer, während die anderen mit Laptops arbeiteten. Keiner von ihnen schenkte V ic die geringste Beachtung.
Lou befand sich im Schlafzimmer in dem Schaukelstuhl in der Ecke. V ic schloss die Tür hinter sich und schlich durch die Dunkelheit auf ihn zu. Die V orhänge waren zugezogen, und im Raum war es finster und stickig.
Lous Hemd war mit schwarzen Fingerabdrücken beschmiert. Er roch nach Motorrad und nach der Remise – kein unangenehmer Geruch. Auf seiner Brust lag ein Blatt braunes Papier. Sein rundes Gesicht wirkte in der Dunkelheit grau, und mit dem Zettel auf der Brust erinnerte er sie an die Daguerreotypie eines toten Revolverhelden – V erbrechern keine Gnade.
V ic betrachtete ihn beunruhigt. Sie tastete an seinem dicken Unterarm nach seinem Puls – sie war sich sicher, dass er nicht atmete. Doch dann holte er plötzlich pfeifend Luft. Er schlief nur. Er war mit Stiefeln an den Füßen eingeschlafen.
Sie zog die Hand zurück. Noch nie hatte er so krank und erschöpft ausgesehen. Seine Bartstoppeln waren teilweise grau. Irgendwie war es kaum vorstellbar, dass
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