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Christmasland (German Edition)

Christmasland (German Edition)

Titel: Christmasland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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– Freude gehört so selbstverständlich zum Leben dazu wie die Schwerkraft.
    Ein großer, bronzefarbener Schmetterling krabbelte außen am Fenster hoch. Sein pelziger Körper war so dick wie Waynes Finger. Es war ungemein beruhigend, dem Insekt dabei zuzusehen, wie es über die Scheibe kroch und dabei hin und wieder mit den Flügeln flatterte. Wenn das Fenster einen Spaltbreit offen stünde, könnte der Schmetterling zu ihm hereinkommen. Dann hätte Wayne ein Tier, das ihm Gesellschaft leistete.
    Gedankenverloren strich er mit dem Daumen über die Mondsichel. Seine Mutter hatte ihr Motorrad, Mr. Manx den Wraith, und Wayne hatte einen ganzen Mond für sich allein.
    In Gedanken malte er sich aus, was er mit dem Schmetterling anfangen würde. Er würde ihm beibringen, auf seinem Finger zu landen wie ein abgerichteter Falke. Dort würde er dann sitzen und zufrieden seine Flügel ausbreiten. Wayne würde ihn auf den Namen Sunny taufen.
    In der Ferne bellte ein Hund, die Begleitmusik eines trägen Sommertages. Wayne zog den losen Zahn aus dem Zahnfleisch und steckte ihn in die Tasche seiner Shorts. Er wischte sich die Finger am T-Shirt ab. Als er wieder mit dem Daumen über den Mond strich, beschmierte er ihn, ohne es zu merken, mit Blut.
    Was fraßen Schmetterlinge eigentlich? Wahrscheinlich Pollen. Er fragte sich, was er dem Schmetterling noch so beibringen könnte. V ielleicht könnte er ihn durch brennende Reifen fliegen oder über ein winziges Hochseil balancieren lassen. Er sah sich selbst als Straßenkünstler mit Zylinder und einem lusti gen angeklebten Schnauzbart vor sich: Captain Bruce Carmodys kurioser Schmetterlingszirkus! In seiner V orstellung trug er den Mond wie ein Generalsabzeichen an seiner Jacke.
    Womöglich könnte er dem Schmetterling beibringen, einen Looping zu fliegen, wie ein Flugzeug in einer dieser verrückten Stuntshows. Er könnte ihm auch einen Flügel ausreißen, dann würde das Tier auf jeden Fall einen verrückten Stunt hinlegen. Er stellte sich vor, wie sich der Flügel mit einem leisen Knistern vom Körper löste, wenn er daran zog.
    Die Fensterkurbel drehte sich quietschend, und das Fenster wurde einen Spaltbreit nach unten gefahren. Wayne stand nicht auf. Der Schmetterling krabbelte zu dem Spalt hinauf, flatterte mit den Flügeln und landete auf Waynes Knie.
    »He, Sunny«, sagte Wayne. Er wollte den Schmetterling mit einem Finger streicheln, aber dieser flatterte weg, was gar keinen Spaß machte. Wayne setzte sich auf und fing ihn mit einer Hand wieder ein.
    Eine Weile lang versuchte Wayne, ihm Tricks beizubringen, doch es dauerte nicht lange, bis der Schmetterling müde wurde. Wayne setzte ihn auf dem Boden ab und streckte sich, ebenfalls ein wenig erschöpft, auf der Rückbank aus. Erschöpft, aber zufrieden. Er hatte ein paar ganz hübsche Kunststücke aus dem Schmetterling herausgeholt, bevor er bedauerlicherweise geschwächelt hatte.
    Wayne schloss die Augen. Seine Zunge fuhr unablässig über seinen rauen Gaumen. Sein Zahnfleisch blutete immer noch, aber das war nicht schlimm. Das Blut schmeckte gut. Während er einschlief, strich sein Daumen weiter über die glatte Sichel des Mondes.
    Wayne erwachte vom Geräusch des Garagentors, das sich rumpelnd hob. Mühsam setzte er sich auf. Eine angenehme Trägheit hatte sich in seinen Muskeln breitgemacht.
    Manx kam zum Auto gelaufen, legte den Kopf schief – eine Bewegung, die an einen Hund erinnerte – und schaute durchs Fenster herein.
    »Was ist mit dem Schmetterling passiert?«, fragte er.
    Wayne blickte auf den Boden, wo die Überreste des Schmetterlings auf einem Haufen lagen, beide Flügel und sämtliche Beine waren ausgerissen. V erwirrt runzelte Wayne die Stirn. Als er angefangen hatte, mit dem Insekt zu spielen, war es noch unversehrt gewesen.
    Manx schnalzte mit der Zunge. »Nun gut, wir haben uns lange genug ausgeruht. Wir sollten uns wieder auf den Weg machen. Musst du noch mal pieseln gehen?«
    Wayne schüttelte den Kopf. Er betrachtete erneut den Schmetterling mit einem wachsenden Gefühl des Unbehagens und der Scham. Er erinnerte sich daran, ihm einen Flügel ausgerissen zu haben, aber zu dem Zeitpunkt war es so … aufregend gewesen. Als würde er die V erpackung eines Weihnachtsgeschenks aufreißen.
    Du hast Sunny umgebracht, dachte Wayne. Unwillkürlich schlossen sich seine Finger um den Mond in seiner Hand. Ihn verstümmelt.
    Er wollte nicht daran erinnert werden, wie er dem wild strampelnden Tier die Beine

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