Christmasland (German Edition)
lag auf dem Bauch, mit der Wange in einer Pfütze. Ihre Lippen waren trocken und aufgesprungen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so durstig gewesen zu sein. Sie leckte das Wasser auf, das nach Schmutz und Zement schmeckte, aber angenehm kühl war. Sie befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge.
Neben ihrem Gesicht befand sich ein Stiefel. Sie sah das schwarze Gummiprofil der Sohle und einen herabhängenden Schnürsenkel. Den Stiefel erblickte sie jetzt schon seit ungefähr einer Stunde, wann immer sie die Augen öffnete.
V ic wusste nicht, wo sie sich befand. Wahrscheinlich sollte sie aufstehen und es herausfinden. Es bestand die Möglichkeit, dass die sorgsam zusammengefügten Teile ihres Geistes wieder auseinandersprangen, wenn sie das versuchte, aber ihr blieb nichts anderes übrig. Sie ahnte, dass so bald niemand nach ihr schauen würde.
Sie hatte einen Unfall gehabt. Auf dem Motorrad? Nein. Sie befand sich in einem Keller und war von schmutzigen Betonwänden umgeben, von denen der Putz abbröckelte. Und sie nahm auch einen schwachen Kellergeruch wahr, der zum Teil von anderen Gerüchen überdeckt wurde: dem Gestank von angesengtem Metall und dem von Fäkalien aus einer offenen Latrine.
Sie stemmte sich auf die Knie hoch.
Es tat nicht so weh, wie sie erwartet hatte. Sie spürte Schmerzen in den Gelenken, im Kreuz und im Hinterteil, aber es fühlte sich eher wie die Gliederschmerzen bei einer Grippe an. Immerhin schien nichts gebrochen zu sein.
Als sie den Mann sah, fiel ihr mit einem Mal alles wieder ein: ihre Flucht vom Lake Winnipesaukee, die Brücke, die niedergebrannte Kirche, der Mann namens Bing, der versucht hatte, sie mit Gas zu betäuben und zu vergewaltigen.
Der Gasmaskenmann war von der Explosion in zwei Hälften gerissen worden, die nur noch über einen Strang fettiger Eingeweide miteinander verbunden waren. Sein Oberkörper lag draußen im Korridor und seine Beine im Türrahmen.
Die Metallflasche mit dem Sevofluran war zerplatzt, aber der Mann hielt den Druckregler noch in der Hand, zusammen mit einer helmförmigen Schüssel aus verbogenen Metalldornen – dem oberen Teil der Flasche. Der Latrinengeruch rührte von der Leiche des Mannes her, vermutlich waren seine Eingeweide bei der Explosion geplatzt.
Der Raum wirkte irgendwie verzerrt und schief. Benommen schaute V ic sich um. Sie hatte das Gefühl, sich zu schnell aufgesetzt zu haben. Die Liege war umgeworfen worden, sodass die Bettfedern und Beine nach oben ragten. Das Waschbecken hing in einem Winkel von fünfundvierzig Grad über dem Boden und wurde nur noch von zwei Rohren gehalten, die sich aus der V erankerung gelöst hatten. Wasser sprudelte aus einem gebrochenen V erbindungsstück und sammelte sich auf dem Boden. Wenn V ic noch länger bewusstlos gewesen wäre, wäre sie womöglich ertrunken.
Es kostete sie Mühe, auf die Beine zu kommen. Ihr linkes Bein ließ sich nicht durchdrücken, und als es ihr schließlich doch gelang, durchfuhr sie ein so heftiger Schmerz, dass sie zischend die Luft einsog. Ihr Knie war grün und blau. Sie wagte nicht, das Bein zu belasten, weil sie fürchtete, es könnte unter ihr nachgeben.
V ic schaute sich im Raum um, wie eine Besucherin im Museum für Leid und Schmerz. Hier gibt’s nichts mehr zu sehen. Lassen Sie uns weitergehen. Im nächsten Raum erwarten Sie ein paar ganz einmalige Ausstellungsstücke.
Sie stieg über den Unterkörper des Gasmaskenmannes hinweg und passte dabei auf, nicht über die Gedärme zu stolpern. Der Anblick war so unwirklich, dass ihr nicht einmal übel wurde.
Als sie um seinen Oberkörper herumging, wandte sie den Kopf ab, weil sie sein Gesicht nicht sehen wollte. Aber als sie zwei Schritte getan hatte, drehte sie sich doch noch einmal um und warf einen Blick zurück.
Der Kopf des Mannes war zur Seite gedreht. Die Augen hinter den durchsichtigen Plastikscheiben waren weit aufgerissen. Die Explosion hatte den Atemfilter in seinen offenen Mund gedrückt – ein Knebel aus geschmolzenem schwarzen Plastik und verkohlten Fasern.
V ic ging den Korridor hinunter. Dabei hatte sie das Gefühl, sich an Deck eines gekenterten Schiffes zu befinden. Ständig driftete sie nach rechts ab und musste sich mit der Hand von der Wand abstoßen. Nur dass mit dem Korridor eigentlich alles in Ordnung war. V ic selbst war das Boot, das unterzugehen und in wirbelnder Dunkelheit zu verschwinden drohte. Einmal vergaß sie, ihr linkes Bein zu schonen, und das Knie gab augenblicklich nach. Sie
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