Christmasland (German Edition)
werden musste – ein Omelett zubereiten, Glühbirnen auswechseln, jemand in den Arm nehmen –, machte es manchmal Spaß, eine Frau zu sein.
Wäre da nur nicht diese riesige Kluft zwischen dem, was die Männer in ihrem Leben von ihr hielten, und dem, was sie wirklich war! Sie hatte immer zu viel verlangt und zu wenig gegeben, als wollte sie jeden, der sie gern hatte, am liebsten aus Selbstschutz in die Flucht schlagen.
Ihr linkes Auge fühlte sich wie eine große Schraube an, die sich immer tiefer in ihre Augenhöhle hineinbohrte.
Ein Dutzend Schritte lang blieb ihr linkes Knie steif. Auf halbem Wege durch den Garten jedoch gab es plötzlich ohne V orwarnung nach, und sie fiel direkt darauf – ein Gefühl, als hätte Manx mit seinem Hammer zugeschlagen.
Ihr V ater und Lou kamen aus der Tür gestürzt. Sie hob die Hand, um ihnen zu bedeuten: Keine Sorge, alles in Ordnung. Sie stellte jedoch fest, dass sie nicht wieder aufstehen konnte. Nachdem sie jetzt auf dem Boden kniete, konnte sie das Bein nicht mehr ausstrecken.
Ihr V ater legte ihr einen Arm um die Taille und drückte ihr die andere Hand auf die Stirn.
»Du glühst ja«, sagte er. »Himmel, Mädchen. Ins Haus mit dir!«
Er nahm V ics einen Arm und Lou den anderen, und sie zogen sie auf die Füße. Sie wandte sich zu Lou um und atmete tief ein. Sein rundes, von Falten gezeichnetes Gesicht war blass, und er schwitzte in der feuchten Luft. Sein kahler Schädel war von kleinen Regentropfen bedeckt. Nicht zum ersten Mal dachte sie, dass er im falschen Jahrhundert und im falschen Land geboren war: Er hätte einen großartigen Little John abgegeben – wahrscheinlich hätte er sich pudelwohl gefühlt, im Sherwood Forest angeln zu gehen.
Es würde mich so glücklich machen, wenn du jemand finden würdest, der deine Liebe verdient hat, Lou Carmody, dachte sie.
Ihr V ater hatte immer noch den Arm um ihre Taille gelegt. In der Dunkelheit des Waldes war er derselbe Mann wie damals in ihrer Kindheit – der Mann, der Witze erzählte, während er ihre Schürfwunden verarztete, der sie hinten auf seiner Harley mitfahren ließ. Aber als er in das Licht trat, das aus der offenen Hintertür der Blockhütte fiel, sah sie einen Mann mit weißem Haar und ausgemergeltem Gesicht. Er hatte einen peinlichen Schnurrbart und ledrige Haut – die Haut eines lebenslangen Rauchers –, und tiefe Falten hatten sich in seine Wangen gegraben. Seine Jeans hingen an seinem nicht vorhandenen Hintern und den Pfeifenputzerbeinen herab.
»Was hat denn der Muschikitzler in deinem Gesicht verloren, Dad?«, fragte sie.
Er warf ihr einen überraschten Blick zu und schüttelte den Kopf. Öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Schüttelte noch einmal den Kopf.
Weder Lou noch ihr V ater wollten sie loslassen, also mussten sie sich seitwärts durch die Tür schieben. Chris ging voraus und half ihr über die Schwelle.
Im hinteren Flur blieben sie stehen, zwischen einer Waschmaschine, einem Trockner und ein paar V orratsregalen. Ihr V ater musterte sie eingehend.
»Scheiße, V ic«, sagte er. »Was ist denn bloß mit dir passiert?« Zu ihrer Bestürzung brach er in Tränen aus.
Er schluchzte unangenehm laut, und seine schmalen Schultern bebten. Er weinte mit offenem Mund, sodass sie die Metallfüllungen in seinen Backenzähnen sehen konnte. Am liebsten hätte sie selbst auch losgeheult; schlimmer als er konnte sie doch gar nicht aussehen, oder? Sie hatte das Gefühl, ihn erst vor Kurzem getroffen zu haben – vielleicht letzte Woche –, und damals war er fit gewesen und zu allem bereit, ein Mann, der vor nichts und niemand weglief. Aber er war weggelaufen. Und wenn schon! Sie hatte sich auch nicht besser geschlagen. Wahrscheinlich sogar um einiges schlechter.
»Du solltest erst mal den Typ sehen, der sich mit mir angelegt hat«, sagte sie.
Ihr V ater stieß ein ersticktes Geräusch aus, halb Schluchzen, halb Lachen.
Lou blickte durch die Fliegengittertür hinaus. Die Nacht roch nach Moskitos – ein wenig wie Kupferdraht und Regen.
»Wir haben ein Geräusch gehört«, sagte Lou. »Einen lauten Knall.«
»Ich hab’s für eine Fehlzündung gehalten«, sagte ihr V ater. »Oder für einen Schuss.« Die Tränen liefen ihm über die ledrigen Wangen und blieben wie Perlen in seinem tabakfleckigen Schnurrbart hängen. Fehlte nur noch der Sheriffstern und ein Colt.
»War das deine Brücke?«, fragte Lou ganz leise, fast ehrfürchtig. »Hast du sie gerade überquert?«
»Ja«, sagte sie.
Weitere Kostenlose Bücher