Christmasland (German Edition)
zu lassen und für immer aus dem Leben seines V aters zu verschwinden. Er wollte ein paar Jahre im Ausland verbringen und erst wieder zurückkehren, wenn er ein völlig anderer Mensch geworden war – schlank und hart und cool, jemand, der sich von seinem V ater umarmen ließ, ohne die Umarmung zu erwidern. Er würde »Sir« zu ihm sagen und, ohne zu lächeln, mit durchgedrücktem Kreuz auf seinem Stuhl sitzen. Wie gefällt Ihnen mein Haarschnitt, Sir?, würde er fragen. Entspricht er Ihren hohen Erwartungen? Er wollte davonfahren und als neuer Mensch zurückkehren – letztlich war genau das geschehen, auch wenn er nie bis Denver kam.
Zu seiner Rechten befand sich das Haus, in dem V ic fast verbrannt wäre. Allerdings war es kein Haus mehr, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Nur noch ein rußbeschmutztes Betonfundament war übrig geblieben und ein Haufen verbrannter Balken. Unter den Trümmern befanden sich ein alter Kühlschrank, ein verzogener Bettrahmen und die Überreste einer Treppe. Einzig eine Wand der früheren Garage war unversehrt geblieben. Eine Tür in dieser Wand stand offen, geradezu einladend, wie um zu sagen: Komm her, setz dich und bleib ein bisschen.
»Ich meine … hier sind wir doch noch nicht im Christmasland, oder?«
»Nein«, sagte sie. »Das ist das Portal. Wahrscheinlich muss er gar nicht hier durchkommen, aber es ist der einfachste Weg für ihn.«
Engel mit Trompeten an den Lippen wiegten sich im Schneegestöber.
»Dein Portal …«, sagte er. »Die Brücke. Sie ist fort. Sie war schon fort, als wir die Böschung runtergepurzelt sind.«
»Wenn ich sie brauche, kann ich sie wieder herbeirufen«, sagte sie.
»Ich wünschte, wir hätten die Bullen mit hierherbringen können. V ielleicht hätten sie mit ihren Knarren zur Abwechslung mal auf den Richtigen gezielt.«
»Je weniger wir die Brücke belasten, umso besser«, erwiderte V ic. »Als Fluchtweg ist sie unsere letzte Option. Ich wollte ja nicht mal dich mit rübernehmen.«
»Na ja, ich bin jetzt hier.« Er hielt immer noch die glänzende Packung ANFO in der Hand. V orsichtig schob er sie in den Rucksack zurück und wuchtete ihn hoch. »Was hast du jetzt vor?«
» V or allem möchte ich, dass du mir den Rucksack gibst.« Sie griff nach einem der Gurte. Er starrte sie einen Moment lang an, unsicher, ob er ihr den Sprengstoff geben sollte, aber dann ließ er los. Er hatte erreicht, was er wollte: Er war hier und würde sich jetzt bestimmt nicht mehr abschütteln lassen. V ic hievte sich den Sprengstoff auf den Rücken.
»Und außerdem …«, setzte sie an, verstummte jedoch und starrte in Richtung Landstraße.
Ein Wagen glitt durch die Nacht; das Scheinwerferlicht flackerte zwischen den Kiefernstämmen, die endlos lange Schatten auf den Kiesweg warfen. Als sich der Wagen der Einfahrt nährte, wurde er langsamer. Lou verspürte einen dumpfen Schmerz hinter dem linken Ohr. Der Schnee fiel in dicken Gänsefederflocken und sammelte sich langsam auf der unbefestigten Straße.
» V erdammt«, sagte Lou und erkannte seine angespannte Stimme selbst kaum wieder. »Das ist er. Wir sind noch nicht bereit.«
»Komm her.«
V ic packte ihn am Ärmel und zog ihn rückwärts über den Teppich aus trockenem Laub und Kiefernnadeln. Sie schlüpften zwischen ein paar Birken. Zum ersten Mal bemerkte Lou, dass ihr Atem im silbernen Schein des Mondes kleine Wölkchen bildete.
Der Rolls-Royce Wraith bog auf den langen Kiesweg. Der bleiche Mond spiegelte sich in der Windschutzscheibe, gefangen in einem Gewirr schwarzer Zweige.
Sie schauten zu, wie der Wagen in gemessenem Tempo auf sie zurollte. Lou spürte, wie seine dicken Beine zitterten. Ich muss nur noch eine kleine Weile durchhalten, dachte er. Lou glaubte von ganzem Herzen an Gott, und zwar seit er George Burns in O Gott … auf V ideo gesehen hatte. Jetzt schickte er ein Stoßgebet nach oben zu dem hageren, verschrumpelten Burns: Bitte. Ich war schon einmal tapfer, lass mich jetzt wieder tapfer sein. Wayne und Vic zuliebe. Ich werde sowieso sterben, also lass mich einen würdigen Tod sterben. Da wurde ihm klar, dass er sich das schon oft gewünscht hatte: eine letzte Chance, um zu zeigen, dass er seine Furcht überwinden und tun konnte, was getan werden musste. Es war so weit.
Reifen knirschten über Kies. Der Rolls-Royce glitt an ihnen vorbei. Als er auf gleicher Höhe mit ihnen war, schien er, keine fünf Meter entfernt, langsamer zu werden, als hätte der Fahrer sie gesehen und würde
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