Christmasland (German Edition)
Porzellanpflaume, die mit Goldsternchen und Schneeflocken übersät war. Er fing an zu schwitzen und zog seine Flanelljacke aus.
»Lou«, sagte Tabitha, die oben auf der Böschung stand, noch einmal. »Warum machst du das?«
»Weil eins von diesen Dingern seins ist«, sagte Lou mit einer Kopfbewegung in Waynes Richtung. » V ic hat das meiste von ihm wieder mitgebracht, aber ich will auch noch den Rest haben.«
Der Wind heulte. Die Zweige beugten sich herab. Es war ein wenig beängstigend, wie sich die Bäume immer aufgebrachter hin und her warfen. Tannennadeln und trockenes Laub wurden aufgewirbelt.
»Was soll ich tun?«, fragte Tabitha.
»Mich vor allem nicht verhaften.«
Er wandte sich um, schnappte sich eine weitere Weihnachtskugel und zerschlug sie. Es klimperte melodiös.
Tabitha schaute zu Wayne hinüber. »Ich konnte es noch nie leiden, tatenlos rumzustehen. Willst du uns helfen? Sieht aus, als würde es Spaß machen.«
Das musste Wayne zugeben.
Tabitha benutzte den Griff ihrer Pistole. Wayne verwendete einen großen Stein. Im Wagen wurde das Weihnachtslied immer lauter und lauter, bis sogar Tabitha es bemerkte und sichtlich beunruhigt den Kopf hob. Lou schenkte dem keine Beachtung, sondern fuhr fort, Stechpalmenblätter aus Glas und Drahtkronen zu zermalmen, und nach einer Weile war wieder weißes Rauschen zu hören, das den Chor übertönte.
Wayne zerschlug Engel mit Trompeten, Engel mit Harfen, Engel mit gefalteten Händen. Er zerschlug den Weihnachtsmann und all seine Rentiere und Elfen. Anfangs lachte er. Dann wurde es mit der Zeit immer weniger komisch, und nach einer Weile begannen ihm die Zähne wehzutun. Sein Gesicht fühlte sich heiß an, dann kalt, und dann so eisig, dass es brannte. Er wusste nicht, warum, und dachte auch nicht groß darüber nach.
Er holte gerade mit einem blauen Brocken Schiefer aus, um ein Porzellanschaf zu zerschmettern, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm und den Kopf hob. Neben der Ruine des Sleigh House stand ein Mädchen. Sie trug ein schmutziges Nachthemd – früher war es einmal weiß gewesen, aber jetzt wies es rostfarbene Blutflecken auf –, und ihr Haar hing wirr herab. Ihr hübsches blasses Gesicht war schmerzverzerrt, und sie weinte lautlos. Ihre Füße waren blutig.
»Pomosch«, flüsterte sie, und fast wäre ihre Stimme im Pfeifen des Windes untergegangen. »Pomosch.« Wayne hatte das russische Wort für Hilfe noch nie gehört, aber er verstand es trotzdem.
Tabitha folgte Waynes Blick, schaute sich um und entdeckte das Mädchen.
»Gütiger Himmel«, sagte sie leise. »Lou. Lou!«
Lou Carmody starrte das Mädchen an, Marta Gregorski, vermisst seit 1991. Sie war zwölf gewesen, als sie in Boston aus einem Hotel verschwunden war, und jetzt, zwanzig Jahre später, war sie immer noch zwölf. Lou betrachtete sie und wirkte dabei nicht im Mindesten überrascht. Er sah grau und müde aus, und Schweiß lief ihm über die faltigen Wangen.
»Ich muss mich um den Rest kümmern, Tabby«, sagte er. »Kannst du ihr helfen?«
Tabitha wandte sich um und warf ihm einen ängstlichen, verwirrten Blick zu. Dann schob sie ihre Pistole ins Holster und schritt rasch die Böschung hinauf.
Ein Junge trat hinter Marta aus dem Unterholz, ein schwarzhaariger, etwa zehnjähriger Junge in der blauroten Uniform eines königlichen Leibgardisten. Brad McCauleys Augen wirkten gleichzeitig verzweifelt und freudig überrascht; er warf Marta einen Seitenblick zu und begann leise zu schluchzen.
Wayne wurde schwindelig, während er die beiden betrachtete. Brad hatte die Uniform auch letzte Nacht in seinem Traum getragen. Wayne begann zu schwanken, und er wäre beinahe hintenübergefallen, aber sein V ater legte ihm eine riesige Hand auf die Schulter. Diese Hände wollten nicht so recht zum übrigen Körper passen. Seine große, schlaksige Gestalt wirkte, als wäre sie aus unterschiedlichen Teilen zusammengesetzt.
»He, Wayne«, sagte Lou. »He. Du kannst dir das Gesicht an meinem Hemd abwischen, wenn du willst.«
»Was?«
»Du weinst, mein Junge«, sagte Lou. Er hielt die andere Hand hoch. In ihr lagen lauter Keramikscherben: Trümmer eines zerschlagenen Mondes. »Du weinst schon eine ganze Weile. Das hier war wohl deiner, hm?«
Wayne spürte, wie er mit den Schultern zuckte. Er versuchte zu antworten, brachte jedoch keinen Ton heraus. Die Tränen auf seinen Wangen brannten im kalten Wind. Er verlor jegliche Selbstbeherrschung und vergrub sein Gesicht am Bauch
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