Christmasland (German Edition)
den Ritzen der Rocky Mountains konnte man die Welt unterhalb der Berge leicht aus den Augen verlieren – inmitten der Klippen, Bäume und heftigen Stürme konnte einem das 21. Jahrhundert wie ein bloßes Gedanken konstrukt erscheinen, eine abstruse V orstellung von Menschen, die für den Fels und das Leben hier völlig bedeutungslos war.
Lou hielt an und stieg aus, um die blaue Polizeisperre wegzuräumen.
Der Abschleppwagen klapperte über die Schotterpiste bis vor die Tür der Ruine. Der Giftefeu färbte sich in der herbstlichen Kühle allmählich rot. Ein Specht hämmerte irgendwo gegen eine Kiefer. Nachdem Lou den Schaltknüppel in die Park-Position geschoben hatte, war aus dem Radio nur noch ein lautes Knistern zu hören.
Als Wayne die Augen schloss, konnte er sie geradezu sehen, die Kinder des weißen Rauschens, die zwischen Wirklichkeit und V orstellung verloren gegangen waren. Sie waren so nahe, dass er im Knistern des Radios beinahe ihr Lachen zu hören glaubte. Er zitterte.
Sein V ater berührte sein Bein, und Wayne öffnete die Augen und sah ihn an. Lou war bereits ausgestiegen, aber er hatte sich noch einmal umgedreht und ihm eine Pranke aufs Knie gelegt.
»Alles ist gut«, sagte sein V ater. »Wir kriegen das hin, Wayne. Du bist hier sicher.«
Wayne nickte – aber sein V ater hatte ihn missverstanden. Er hatte keine Angst. Er zitterte vor nervöser Erregung. Die anderen Kinder waren so nahe und warteten darauf, dass er zurückkam und eine neue Welt herbeiträumte, ein neues Christmasland mit Fahrgeschäften und Imbissbuden und Spielen. Er war dazu in der Lage. Jeder war dazu in der Lage. Er benötigte nur ein Werkzeug, mit dem er ein Loch in die Welt schneiden konnte, um in seine eigene Innenwelt zu gelangen.
Wayne spürte den Metallkopf des Hammers an seiner Hüfte, sah ihn an und dachte: vielleicht … Bei der V orstellung, was für ein Geräusch er machen würde, wenn er auf Knochen traf, verspürte er ein freudiges Kribbeln. Er würde sich Tabitha Hutters hübsches, kluges, arrogantes Gesicht vornehmen, ihre Brille zertrümmern, ihr die Zähne aus dem Mund brechen. Das wäre ein Spaß! Das Bild ihrer vollen, von Blut umrandeten Lippen machte ihn wahnsinnig an. Wenn er mit ihnen fertig war, konnte er im Wald spazieren gehen, zurück zur Klippenwand, wo sich der Backsteintunnel zum Christmasland befunden hatte. Dort würde er eine Öffnung in den Fels hämmern. Die Welt würde einen Riss bekommen, und er könnte zurückkehren in die Welt der Gedanken, wo die anderen Kinder auf ihn warteten.
Doch noch während er sich seinen Fantasien hingab, schob sein V ater seine Hand beiseite und griff nach dem Hammer.
»Himmel, was wird das denn jetzt?«, fragte Tabitha im Flüsterton, öffnete ihren Sicherheitsgurt und stieg auf der anderen Seite aus.
Der Wind rauschte in den Tannen. Engel schaukelten an den Ästen. Silberkugeln brachen das Licht und verwandelten es in einen grellen, vielfarbigen Funkenregen.
Lou verließ die Schotterpiste und stapfte die Böschung hinunter. Er hob den Kopf – er hatte nur noch ein Kinn, und das konnte sich sehen lassen – und richtete seinen weisen Schildkrötenblick auf den Weihnachtsschmuck in den Bäumen. Nach einer Weile packte er einen weißen Engel, der in eine goldene Trompete blies, und zerschlug ihn mit dem Hammer.
Das Knistern aus dem Radio verwandelte sich ganz kurz in ein Feedbackjaulen.
»Lou?«, fragte Tabitha und ging vorn um den Truck herum, und Wayne überlegte, dass er sie, wenn er jetzt hinters Steuer rutschte und den Gang einlegte, problemlos überfahren könnte. Er malte sich aus, wie es wohl klingen würde, wenn ihr Schädel gegen den Kühlergrill krachte, und musste lächeln – eine wirklich lustige V orstellung –, doch dann trat Tabitha zwischen die Bäume. Er blinzelte, um die entsetzliche, wundervolle V ision loszuwerden, und sprang selbst aus dem Wagen.
Eine Windbö fuhr ihm durchs Haar.
Lou pflückte eine Glitzerkugel von der Größe eines Softballs von einem Ast, warf sie in die Luft und schwang den Hammer wie einen Baseballschläger. Die Kugel zerbarst, und schillernde Glassplitter regneten herab. Ein hübscher Anblick.
Wayne blieb neben dem Truck stehen und schaute ihm zu. Hinter sich hörte er, vom lauten Knistern aus dem Radio überlagert, einen Kinderchor ein Weihnachtslied singen – »Ihr Kinderlein, kommet«. Ihre lieblichen Stimmen kamen von weit her.
Lou zerschlug einen Weihnachtsbaum aus Keramik und eine
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