Christmasland (German Edition)
dann hatte V ic sich beeilen müssen, um ihren Bus zu erreichen. Zu spät war Willa aufgefallen, dass sie das Foto noch in der Hand hielt. Ihre Freundin hatte es für sie aufbewahrt, um es ihr später wiederzugeben. Wenn V ic mit ihrem Fahrrad nach Hause kam, würde sie das Foto in der Hand halten und eine Geschichte erzählen. Ihr V ater würde sie in den Arm nehmen und ihr sagen, dass er nie an ihr gezweifelt hätte. Und ihre Mutter würde aussehen, als wollte sie jeden Moment Feuer spucken. V ic hätte gar nicht sagen können, worauf sie sich mehr freute.
Nur dass es dieses Mal anders kommen würde. Dieses Mal würde es einen Menschen geben, den sie mit ihrer fast wahren Geschichte nicht überzeugen konnte. Und dieser Mensch war sie selbst.
V ic erreichte das Ende des Tunnels und gelangte in den breiten, dunklen Flur im zweiten Stock der Cooperative-Schule. Kurz vor neun, am Morgen des ersten Ferientages war der Flur so düster und leer, dass er fast ein wenig furchterregend wirkte. V ic zog an den Bremsen, und das Fahrrad kam quietschend zum Stehen.
Sie musste einen Blick zurückwerfen. Sie konnte nicht anders. Niemand hätte diesem Anblick widerstehen können.
Die Shorter Way Bridge ragte direkt durch die Mauer drei Meter in den Korridor hinein und nahm dessen gesamte Breite ein. Hing der Rest der Brücke draußen über dem Parkplatz? V ic bezweifelte es, aber sie hätte in eines der Klassenzimmer einbrechen müssen, um nach draußen zu schauen. Der Brückeneingang war mit Efeu überwuchert, der in schlaffen Ranken vom Dach herabhing.
Beim Anblick der Shorter Way Bridge wurde V ic leicht übel, und einen Moment lang blähte sich der Korridor um sie herum auf wie ein Regentropfen auf einem Zweig, der kurz vor dem Platzen war. V ic fühlte sich ein wenig schwach auf den Beinen. Sie wusste, wenn sie jetzt nicht weiterging, würde sie anfangen nachzudenken, und das war keine gute Idee. Sich mit acht oder neun einzubilden, dass man über eine längst nicht mehr existierende Brücke fuhr, war etwas völlig anderes als mit dreizehn. Mit neun war es ein Tagtraum. Mit dreizehn eine Wahnvorstellung.
Sie hatte gewusst, dass sie hier landen würde (es hatte in grüner Schrift an der Wand der Brücke gestanden), sie hatte jedoch vermutet, dass es im ersten Stock, bei Mr. Ellis’ Unterrichtsraum, sein würde. Stattdessen war sie im zweiten Stock herausgekommen, in der Nähe ihres Schließfaches. Sie hatte sich am V ortag mit ein paar Freunden unterhalten, während sie ihr Fach ausgeräumt hatte. Um sie herum hatte ein ziemlicher Lärm geherrscht – Schreie und Gelächter, Kids, die vorbeiliefen –, und sie war abgelenkt gewesen. Trotzdem hatte sie das Fach noch einmal gründlich abgesucht, bevor sie es zum letzten Mal für dieses Schuljahr geschlossen hatte. Sie war sich ziemlich sicher gewesen, dass es leer gewesen war. Aber die Brücke hatte sie hierhergebracht, und die Brücke irrte sich nie.
Es gibt keine Brücke, dachte sie. Willa hatte das Foto. Sie wollte es mir bei nächster Gelegenheit zurückgeben.
V ic lehnte das Fahrrad gegen die Schließfächer, öffnete ihres und suchte die beigefarbenen Wände und den verrosteten Boden ab. Nichts. Sie tastete das Ablagefach ab, das sich ein Stück über ihrem Kopf befand. Auch dort war das Foto nicht.
Besorgnis machte sich in ihr breit. Sie hoffte, dass sie das Foto bald finden würde, damit sie von hier verschwinden und die Brücke so schnell wie möglich wieder vergessen konnte. Aber wenn es sich nicht in ihrem Schließfach befand, wusste sie nicht, wo sie als Nächstes suchen sollte. Sie wollte schon die Tür schließen, hielt jedoch noch einmal inne und stellte sich auf die Zehenspitzen, um mit der Hand über die Kante des Ablagefachs zu fahren. Selbst diesmal hätte sie es beinahe übersehen. Irgendwie war eine Ecke des Fotos in den Spalt am hinteren Ende des Faches gerutscht, sodass es nun aufrecht an der Rückwand klebte. Sie musste ihren Arm, so weit es ging, ausstrecken, damit sie es zu fassen bekam.
Sie schob die Fingernägel zwischen Rückwand und Foto und zerrte daran, bis es endlich aus dem Spalt herauskam. Dann sank sie auf die Fußsohlen zurück und spürte, wie ihr vor Freude die Röte ins Gesicht stieg.
»Yes!«, sagte sie und schlug die Tür des Schließfaches zu.
Der Hausmeister, Mr. Eugley, stand am anderen Ende des Korridors. Er stützte sich auf seinen Wischmopp, der in einem großen, gelben Rolleimer steckte, und starrte V ic, ihr Fahrrad
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