Christmasland (German Edition)
Zwölfzylinder-Trucks. Er drehte den Kopf, konnte jedoch nichts erkennen.
»Hören Sie das?«, fragte Bing. Er hatte gar nicht bemerkt, dass ihm der leere Deckel der Thermoskanne aus den plötzlich kribbelnden Fingern gefallen war. »Hören Sie, wie hinter uns etwas näher kommt?«
»Das wird der Morgen sein«, sagte Manx. »Er rückt schnell heran. Schau nicht hin, Bing, hier kommt er schon!«
Das Dröhnen des Trucks wurde lauter und lauter, und plötzlich zog er links an ihnen vorbei. Bing blickte durch das Fenster und sah nur einen halben Meter von sich entfernt die Seite eines großen Lieferwagens. Darauf befand sich das Bild einer grünen Wiese, auf der ein rotes Bauernhaus stand, umgeben von einer Herde Kühe. Eine lächelnde Sonne ging über ein paar Hügeln auf. Die Sonnenstrahlen beleuchteten einen großen Schriftzug: SUNRISE DELIVERY .
Einen Moment lang verdeckte das Bild die Sicht nach drau ßen. Dann war der Lastwagen vorbei und entfernte sich in einer gewaltigen Staubwolke. Bing zuckte zusammen, als sein Blick auf einen fast schon schmerzhaft blauen Morgenhimmel fiel – ein Himmel ohne Wolken und ohne Grenzen. Darunter erstreckte sich
Das ländliche Pennsylvania
C harlie Manx fuhr mit dem Wraith an den Straßenrand und hielt an. Sie befanden sich auf einer rissigen Sandstraße, die von vergilbtem Unkraut gesäumt wurde. Insekten summten, und eine niedrig stehende Sonne leuchtete hell am Himmel. Es war höchstens sieben Uhr morgens, aber Bing spürte schon die bevorstehende Hitze des Tages durch die Windschutzscheibe.
»Herr im Himmel«, sagte Bing. »Was ist denn jetzt passiert?«
»Die Sonne ist aufgegangen«, erwiderte Manx leise.
»Habe ich geschlafen?«, fragte Bing.
»Ich glaube eher, dass du wach warst, Bing. V ielleicht zum ersten Mal in deinem Leben.«
Manx lächelte, und Bing lief rot an und lächelte unsicher zurück. Er verstand Charlie Manx nicht immer, aber das machte es nur noch einfacher, ihn zu bewundern und zu verehren.
Libellen schwebten über dem hohen Unkraut. Bing wusste nicht, wo sie sich befanden. Sugarcreek war es jedenfalls nicht. Stattdessen eine Landstraße mitten im Nirgendwo. Als er aus dem Beifahrerfenster schaute, fiel sein Blick auf einen Kolonialzeitbau mit schwarzen Fensterläden, der im dunstigen, goldenen Sonnenlicht auf einem Hügel stand. Ein Mädchen in einem einfachen Kleid mit rotem Blümchenmuster befand sich in der Einfahrt unter einer Robinie und sah zu ihnen herüber. In einer Hand hielt die Kleine ein Springseil, das sie jedoch nicht benutzte. Stattdessen musterte sie sie mit skeptischem Blick. Wahrscheinlich hatte das Mädchen noch nie einen Rolls-Royce gesehen.
Bing kniff die Augen leicht zusammen und hob dann eine Hand, um der Kleinen zuzuwinken. Sie winkte nicht zurück, sondern legte den Kopf schief und betrachtete sie. Ihr rechter Zopf fiel ihr auf die Schulter, und da erkannte Bing sie. Überrascht sprang er auf und stieß sich das Knie am Armaturenbrett.
»Das ist sie!«, rief er. »Das ist sie!«
»Wer denn, Bing?«, fragte Charlie Manx in wissendem Tonfall.
Bing starrte das Mädchen an, und es starrte zu ihm zurück. Er hätte kaum erschrockener sein können, wenn eine Tote aus dem Grab gestiegen wäre. Aber eigentlich war auch genau das gerade geschehen.
»Lily Carter«, sagte Bing. Er hatte schon immer ein gutes Gedächtnis für V erse gehabt. »Von der Mutter zur Sünde auserkoren, hat sie schon früh ihre Unschuld verloren. Ach, hätt nur jemand über sie gewacht und sie beizeiten ins …« Er verstummte, als eine Fliegengittertür auf der V eranda geöffnet wurde und eine zierliche Frau in einer mit Mehl bestäubten Schürze den Kopf herausstreckte.
»Lily!«, rief die Frau. »Ich habe dir schon vor zehn Minuten gesagt, dass das Frühstück fertig ist. Komm jetzt endlich rein!«
Lily Carter antwortete nicht, machte jedoch ein paar Schritte rückwärts auf das Haus zu. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie hatte keine Angst. Sie wirkte nur … interessiert.
»Das ist Lilys Mutter«, sagte Manx. »Die kleine Lily Carter und ihre Mutter beobachte ich schon länger. Die Mutter arbeitet in einer Kneipe hier in der Nähe. Du weißt ja, was für Frauen in Kneipen arbeiten?«
»Wieso? Was denn für welche?«, fragte Bing.
»Die meisten sind Huren«, sagte Manx. »Jedenfalls solange sie noch jung und ansehnlich sind, und bei Lily Carters Mutter ist es damit bald vorbei. Und dann, fürchte ich, wird sie sich von einer Hure in eine
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