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Christmasland (German Edition)

Christmasland (German Edition)

Titel: Christmasland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Eierstockkrebs erkrankt war und im Alter von dreiunddreißig Jahren sterben würde. Das Foto war das einzige Andenken, das ihm von seiner Mutter verblieben war, und als V ic gefragt hatte, ob sie es für ein Kunstprojekt mit in die Schule nehmen dürfte, war Linda dagegen gewesen. Chris McQueen hatte seine Frau jedoch überstimmt. Er hatte gesagt: He. Ich möchte, dass Vic sie malt. Immerhin ist das die einzige Möglichkeit, wie sie ein bisschen Zeit miteinander verbringen können. Aber bring das Foto bitte wieder mit, Gör. Ich will mich immer daran erinnern, wie sie ausgesehen hat.
    Mit dreizehn war V ic im Kunstunterricht bei Mr. Ellis die Klassenbeste. Ihr Aquarellbild Überdachte Brücke hatte er als das einzige Bild einer Siebtklässlerin für eine Schulausstellung im Rathaus ausgewählt – und die Bilder der Achtklässler waren mies bis grottenschlecht gewesen. (Mies: Bilder von unförmigen Früchten in krummen Schüsseln. Grottenschlecht: ein springendes Einhorn, aus dessen Hinterteil ein strahlender Regenbogen hervorschoss, als hätte es Blähungen.) Als die Haverhill Gazette in einem Artikel über die Ausstellung berichtete, war relativ klar, wessen Bild sie als Illustration benutzen würden. Jedenfalls nicht das Einhorn. Nachdem die Ausstellung vorbei war, kaufte V ics V ater einen sündhaft teuren Rahmen aus Birkenholz, damit V ic das Bild über ihrem Bett aufhängen konnte. An der Stelle, wo früher ihr Knight-Rider -Poster gehangen hatte. Den Hoff hatte V ic schon vor Jahren rausgeworfen. Der Hoff war ein Loser, und Sportwagen waren beschissene Spritfresser. Sie vermisste ihn nicht im Geringsten.
    Das letzte Thema, mit dem sie sich in diesem Schuljahr beschäftigen würden, war »figürliches Zeichnen«. Sie sollten sich dazu ein Foto als V orlage nehmen, das ihnen etwas bedeutete. V ics V ater hatte in seinem Arbeitszimmer über dem Schreibtisch noch Platz an der Wand, und V ic wollte ihm ein Bild seiner Mutter malen – in Farbe.
    Das Bild war inzwischen fertig, und V ic hatte es am Tag zuvor, dem letzten Schultag, mit nach Hause genommen. Und auch wenn das Aquarell nicht ganz so gelungen war wie die Überdachte Brücke , glaubte V ic dennoch, dass sie ein wenig von der Frau auf dem Foto darin eingefangen hatte: die knochige Hüfte unter dem Kleid, ein Hauch von Müdigkeit und Gedankenschwere in ihrem Blick. Ihr V ater hatte das Bild lange betrachtet und dabei einerseits erfreut, aber auch ein wenig traurig ausgesehen. Als V ic ihn fragte, was er von dem Bild hielt, hatte er nur gesagt: »Du lächelst genau wie sie, V ic. Das ist mir noch nie aufgefallen.«
    Das Bild hatte sie mit nach Hause gebracht … das Foto jedoch nicht. V ic hatte gar nicht mehr daran gedacht, bis ihre Mutter am Freitagnachmittag danach gefragt hatte. Zuerst hatte V ic geglaubt, es wäre in ihrem Rucksack oder in ihrem Zimmer. Am Freitagabend musste sie sich jedoch zu ihrer großen Bestürzung eingestehen, dass sie es nicht mehr besaß und auch keine Ahnung hatte, wo sie es das letzte Mal gesehen hatte. Am Samstagmorgen – dem herrlichen ersten Tag der Sommerferien – gelangte V ics Mutter zu der Überzeugung, das Foto sei unwiederbringlich verloren, und bekam einen hysterischen Anfall. Dieses Foto sei sehr viel mehr wert als das stümperhafte Gemälde einer Siebtklässlerin, hatte sie gesagt. Und da war V ic aus dem Haus gerannt. Sie hatte Angst gehabt, selber hysterisch zu werden – ein Gefühl, das sie nicht ausstehen konnte.
    Ihre Lunge schmerzte, als würde sie sich schon seit Stunden auf dem Rad befinden, und ihr Atem ging keuchend wie beim Bergauffahren. Doch als sie die Brücke sah, machte sich so etwas wie Frieden in ihr breit. Nein. Besser noch: Sie spürte, wie sich ihr Bewusstsein von ihrem Körper löste. Ihre Füße traten wie von selbst in die Pedale. So war es schon immer gewesen. In den vergangenen fünf Jahren war sie fast ein Dutzend Mal über die Brücke gefahren, und es war stets weniger eine Erfahrung als vielmehr eine Empfindung gewesen. Sie tat es nicht, sondern fühlte es: Wie im Traum spürte sie, dass sie weiterfuhr, durch das ferne Tosen. Es war fast so, als würde sie die Augen schließen und sich einfach dem Schlaf überlassen.
    Und während die Räder ihres Fahrrades noch über die Holzbohlen ratterten, überlegte sie sich im Geist schon die wahre Geschichte, wie sie das Foto wiedergefunden hatte. Sie hatte es am letzten Schultag ihrer Freundin Willa gezeigt. Sie hatten sich unterhalten, und

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