Christmasland (German Edition)
zu lauschen, wie ihre Mutter mit einer ihrer Freundinnen tratschte. Beinahe fünf Minuten stand sie da und verfolgte das Telefongespräch, ohne dass Mr. Eugleys Name fiel. Allerdings sagte ihre Mutter Dinge wie O nein, wie schrecklich und Der arme Mann .
Schließlich hörte V ic ihre Mutter au fl egen. Und dann das Klappern von Geschirr im Spülbecken.
V ic wollte es nicht wissen. Sie fürchtete sich davor. Aber sie konnte sich trotzdem nicht beherrschen. Es ging einfach nicht.
»Mama?«, sagte sie und steckte den Kopf in die Küche hinein. »Hast du irgendwas über Mr. Eugley gesagt?«
»Hm?«, fragte Linda. Sie stand über die Spüle gebeugt mit dem Rücken zu V ic. Töpfe klapperten. Eine Seifenblase erzitterte und platzte dann. »Ach ja. Er hat einen Rückfall gehabt. Wurde gestern Abend vor der Schule aufgegriffen, wo er wild herumgeschrien hat. Dreißig Jahre lang war er trocken. Seit … na ja, seit er den Alkohol aufgegeben hatte. Der Ärmste. Dottie Evans hat mir erzählt, dass er heute Morgen in der Kirche war und geweint hat wie ein kleines Kind. Er hat gesagt, dass er seinen Job kündigen will, dass er nicht mehr in die Schule zurückgehen kann. Wahrscheinlich ist es ihm peinlich.« Linda sah zu V ic hinüber und runzelte besorgt die Stirn. »Alles in Ordnung, V icky? Du siehst immer noch nicht gut aus. V ielleicht solltest du heute Morgen drinnen bleiben?«
»Nein«, sagte V ic, und ihre Stimme klang seltsam hohl, als würde sie aus dem Inneren einer Kiste kommen. »Ich brauche dringend frische Luft.« Sie zögerte, dann sagte sie: »Ich hoffe, dass er nicht kündigt. Er ist ein wirklich netter Mann.«
»Das ist er. Und er hat euch Kinder sehr gern. Aber jeder wird mal alt und braucht dann Hilfe, V ic. Irgendwann nutzt sich alles ab, Körper und Geist.«
Durch den Wald zu fahren war eigentlich ein Umweg – es wäre viel kürzer gewesen, durch den Bradbury Park zu Willas Haus zu radeln –, aber als V ic auf ihr Fahrrad gestiegen war, hatte sie das Gefühl gehabt, erst einmal ihre Gedanken ordnen zu müssen, bevor sie sich mit jemand treffen konnte.
Wahrscheinlich war es keine gute Idee, darüber nachzudenken, was sie getan hatte und welch unglaubliche, verwirrende Gabe sie besaß. Aber nachdem sie einmal damit angefangen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. In ihrer Fantasie hatte sie ein Loch in der Welt geschaffen und war mit dem Fahrrad hindurchgefahren. Und das war völlig verrückt. Nur eine Irre würde glauben, dass so etwas möglich war. Aber Mr. Eugley hatte sie gesehen. Er hatte sie gesehen, und der Anblick hatte etwas in ihm zerbrechen lassen. Er hatte wieder angefangen zu trinken und hatte Angst, in die Schule zurückzukehren, wo er seit mehr als zehn Jahren arbeitete und wo er glücklich gewesen war. Mr. Eugley – der arme, alte, gebrochene Mr. Eugley – war der Beweis dafür, dass es die Shorter Way Bridge wirklich gab.
Aber eigentlich wollte V ic keinen Beweis. Es wäre besser gewesen, sie hätte die Brücke nie betreten, aber dafür war es jetzt zu spät. Wenn sie wenigstens mit jemand darüber reden könnte! Mit jemand, der ihr versichern würde, dass mit ihr alles in Ordnung und dass sie nicht verrückt sei. Sie wünschte sich, dass ihr jemand eine Erklärung für diese Brücke liefern würde, die immer nur dann existierte, wenn sie sie brauchte, und die sie stets an den richtigen Ort brachte.
Sie fuhr den Hügel hinunter, kühle Luft wehte ihr ins Gesicht.
Sie wollte die Brücke finden, sie wiedersehen. Geistig fühlte sie sich völlig klar, ganz im Jetzt verankert. Sie spürte jeden einzelnen Hüpfer des Raleighs, wenn es über eine Wurzel oder einen Stein fuhr. Sie kannte den Unterschied zwischen Realität und Fantasiewelt und klammerte sich fest an dieses Wissen. Und als sie die alte Schotterstraße erreichte, war sie sich ganz sicher, dass die Shorter Way Bridge nicht da sein würde …
… und doch war sie es.
»Du existierst nicht wirklich«, sagte sie zu der Brücke und wiederholte damit unwillkürlich Mr. Eugleys Worte. »Du bist in den Fluss gefallen, als ich acht war.«
Die Brücke blieb davon unbeeindruckt.
V ic hielt an und betrachtete sie aus sicherer Entfernung. Der Merrimack gluckerte darunter hindurch.
»Hilf mir, jemand zu finden, der mir bestätigen kann, dass ich nicht verrückt bin«, sagte sie zur Brücke, setzte die Füße auf die Pedale und fuhr langsam darauf zu.
Als sie sich dem Eingang näherte, sah sie die vertraute grüne Sprühfarbe an
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