Christmasland (German Edition)
der Wand zu ihrer Linken.
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Das war ein merkwürdiges Ziel. Befand sie sich nicht bereits hier?
Wann immer sie bisher über die Shorter Way Bridge gefahren war, hatte sie sich stets in einer Art Trance befunden. Ihre Beine hatten sich wie von selbst bewegt, und sie war beinahe zu einem Teil des Rades geworden, wie die Gangschaltung und die Kette.
Dieses Mal zwang sie sich dazu, langsam zu fahren und sich umzuschauen. Sie wollte die Brücke immer so schnell wie möglich wieder verlassen, wenn sie einmal hineingefahren war, aber diesmal kämpfte sie gegen den Drang an, sich zu beeilen. Diesmal wollte sie sich sämtliche Einzelheiten einprägen. Als würde sich die Brücke in Luft au fl ösen, wenn sie nur ganz genau hinsah.
Und was dann? Was würde mit ihr passieren, wenn die Brücke auf einmal verschwand? Es spielte keine Rolle. Die Brücke blieb bestehen, egal wie eingehend sie sie betrachtete. Das Holz war alt und splittrig. Die Nägel in den Wänden waren von Rost überzogen. Sie spürte, wie sich die Holzbohlen unter dem Gewicht ihres Fahrrads bogen. Die Shorter Way Bridge wollte einfach nicht verschwinden.
Wie immer hörte sie das weiße Rauschen. Spürte das donnernde Tosen, das ihre Zähne vibrieren ließ. Sie sah den knisternden Lichtsturm durch die Risse in den schrägen Wänden.
V ic wagte es nicht, anzuhalten und die Wände anzufassen oder auf der Brücke umherzulaufen. Womöglich würde sie nicht mehr aufsteigen können, wenn sie einmal von ihrem Fahrrad herunter war. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass die Brücke nur so lange existierte, wie sie sich vorwärtsbewegte.
Die Brücke erzitterte ein paarmal. Staub rieselte von den Dachbalken herab. Hatte sie nicht irgendwann eine Taube dort hinauffliegen sehen?
Sie hob den Kopf und sah, dass die gesamte Decke mit Fledermäusen bedeckt war. Sie hatten die Flügel um ihre kleinen, pelzigen Körper gelegt und bildeten einen wogenden Teppich. Ein paar von ihnen drehten die Köpfe und blickten zu ihr herunter.
Die Fledermäuse sahen alle gleich aus, und alle hatten sie V ics Gesicht. Ihre Gesichter waren rosafarben und verschrumpelt, aber V ic erkannte sich selbst darin wieder. Die Fledermäuse sahen aus wie sie, bis auf die Augen, die rötlich glänzten wie Blutstropfen. Bei ihrem Anblick spürte sie einen scharfen Schmerz in ihrem linken Auge, einen Stich in ihr Gehirn. Über dem Zischen und Knacken des weißen Rauschens hörte sie die hohen, schrillen Schreie der Tiere.
Sie konnte es nicht länger ertragen. Am liebsten hätte sie laut geschrien, aber sie wusste, wenn sie das täte, würden die Fledermäuse zu ihr herabfliegen, und dann wäre alles aus. Sie schloss die Augen und trat mit aller Kraft in die Pedale, um das andere Ende der Brücke zu erreichen. Irgendetwas zitterte heftig. Die Brücke, das Fahrrad oder sie selbst.
Da sie die Augen geschlossen hielt, wusste sie nicht, wann sie das Ende der Brücke erreicht hatte. Mit einem Mal spürte sie jedoch, dass das Fahrrad über eine Schwelle fuhr. Ein Schwall Hitze und Licht strömte ihr entgegen – sie hatte nicht ein einziges Mal nachgesehen, wohin sie eigentlich unterwegs war –, und sie hörte einen Schrei: Vorsicht! Sie öffnete in dem Moment die Augen, als das V orderrad gegen eine Bordsteinkante stieß, und befand sich in
Hier, Iowa
V ic stürzte auf den Gehsteig und schrammte sich das rechte Knie auf.
Sie rollte sich auf den Rücken und hielt ihr Bein fest.
»Au«, sagte sie. »Au, au, au, aua .«
Ihre Stimme wanderte mehrere Oktaven hoch und wieder runter, wie ein Instrumentalist, der Tonleitern spielte.
»Holla! Geht es dir gut?«, hörte sie eine Stimme, die aus dem gleißenden Licht der Mittagssonne zu kommen schien. »Du s-s-solltest wirklich vorsichtiger sein, wenn du s-s-so aus dem Nichts kommst.«
V ic blinzelte in das Licht und sah ein dünnes Mädchen, kaum älter als sie selbst – vielleicht zwanzig –, mit einem Fedora auf den leuchtend purpurroten Haaren. Sie trug eine Halskette aus den Aufreißdeckeln von Bierdosen und zwei Ohrringe, an denen Scrabble-Steine hingen. Ihre Füße steckten in hohen Chucks ohne Schnürsenkel. Sie sah aus wie Sam Spade, wenn Sam Spade ein Mädchen gewesen und an den Wochenenden als Frontsängerin einer Ska-Band aufgetreten wäre.
»Mir geht’s gut. Hab mir nur das Knie ein bisschen aufgeschürft«, sagte V ic, aber das Mädchen hörte schon nicht mehr zu. Stattdessen starrte sie die Shorter Way Bridge an.
»Weißt du, an
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