Christmasland (German Edition)
und die Shorter Way Bridge an.
Mr. Eugley war alt und hatte einen krummen Rücken. Mit seiner Goldrandbrille und der Fliege am Hals sah er mehr nach Lehrer aus als die meisten richtigen Lehrer. Er arbeitete auch als Schülerlotse, und am Tag vor den Osterferien verteilte er immer kleine Tütchen mit Jelly Beans an die Kids. Es hieß, Mr. Eugley hätte den Job angenommen, weil er gern Kinder um sich hatte, nachdem seine eigenen vor vielen Jahren bei einem Brand ums Leben gekommen waren. Traurigerweise war das Gerücht wahr – wenn auch kaum jemand wusste, dass Mr. Eugley den Brand selbst verursacht hatte. Er war betrunken gewesen und mit einer Zigarette in der Hand eingeschlafen. Jetzt leistete, anstelle seiner Kinder, Jesus ihm Gesellschaft, und statt einer Bar besuchte er die Treffen der Anonymen Alkoholiker. Im Gefängnis war er religiös geworden und hatte dem Alkohol abgeschworen.
V ic sah ihn an. Und er sie. Sein Mund öffnete und schloss sich wie der eines Goldfischs. Seine Knie zitterten.
»Du bist doch das McQueen-Mädchen«, sagte er mit seinem starken Ostküstenakzent. Er atmete schwer und hatte die Hand an die Kehle gelegt. »Was ist das da in der Wand? Bei Gott, werde ich etwa verrückt? Das sieht aus wie die Shorter Way Bridge, und die hab ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen.« Er hustete ein paarmal. Der Husten klang seltsam feucht und erstickt und hatte etwas Furchterregendes an sich. Es klang so, als würde es ihm gar nicht gut gehen.
Wie alt war er? Neunzig? , dachte V ic. Sie lag um fast zwanzig Jahre daneben, aber einundsiebzig war trotzdem ein stolzes Alter, in dem man leicht einen Herzinfarkt bekommen konnte.
»Alles ist gut«, sagte V ic. »Bitte …«, begann sie, wusste dann aber nicht, wie sie den Satz weiterführen sollte. Bitte schreien Sie nicht? Oder: Bitte sterben Sie nicht?
»O Gott«, sagte er. »O Gott.« Seine rechte Hand zitterte, als er sie über die Augen legte. Seine Lippen bewegten sich. »Das darf doch nicht wahr sein. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …«
»Mr. Eugley …«, versuchte V ic es noch einmal.
»Geh weg!«, schrie er. »Geh weg und nimm deine Brücke mit! Du existierst nicht wirklich! Du bist nicht hier!«
Er hielt sich weiter die Augen zu und begann wieder vor sich hin zu murmeln. V ic konnte seine Worte zwar nicht verstehen, aber an seinen Lippen konnte sie ablesen, was er sagte. Er weidet mich auf grünen Auen und führt mich zu stillen Wassern.
V ic drehte ihr Fahrrad um, schwang sich in den Sattel und trat in die Pedale. Ihre eigenen Beine fühlten sich auch etwas zittrig an, doch schon im nächsten Moment fuhr sie auf die Holzbohlen der Brücke, hinein in die tosende Dunkelheit und den Geruch nach Fledermäusen.
Als sie die Brücke halb überquert hatte, blickte sie noch einmal zurück. Mr. Eugley stand immer noch im Korridor, den Kopf zum Gebet gesenkt, eine Hand über den Augen, während die andere den Wischmopp umklammerte.
V ic fuhr weiter, von der Brücke hinunter, in den flackernden Schatten des Pittman-Street-Waldes. Das Foto hielt sie in der verschwitzten Hand. Noch bevor sie sich umdrehte, um über die Schulter zurückzublicken, wusste sie, dass die Shorter Way Bridge verschwunden war. Das erkannte sie schon an dem melodischen Gluckern des Flusses in der Tiefe und dem leisen Rauschen des Windes in den Kiefern.
Sie trat in die Pedale und fuhr in den ersten Tag des Sommers hinein. Ihr Puls hämmerte merkwürdig laut, und ein düsteres Gefühl der V orahnung begleitete sie den ganzen Weg nach Hause.
Im Haus der McQueens
Z wei Tage später wollte V ic gerade das Haus verlassen, um mit dem Fahrrad zu Willa zu fahren – die letzte Chance, ihre beste Freundin zu sehen, bevor diese mit ihren Eltern für sechs Wochen an den Lake Winnipesaukee fuhr –, als sie ihre Mutter in der Küche irgendetwas über Mr. Eugley sagen hörte. Sein Name löste bei V ic einen plötzlichen Schwächeanfall aus, und sie hätte sich beinahe hinsetzen müssen. Das ganze Wochenende lang hatte sie sich große Mühe gegeben, nicht an Mr. Eugley zu denken. Was ihr nicht schwergefallen war, weil sie nämlich den gesamten Samstagabend unter furchtbarer Migräne gelitten hatte – so schlimm, dass sie sich fast hätte übergeben müssen. Die Schmerzen hatten besonders hinter ihrem linken Auge gewütet. Sie hatte das Gefühl gehabt, ihr Auge würde jeden Moment platzen.
Sie stieg die Stufen am Eingang wieder hoch und blieb vor der Küche stehen, um
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