Christmasland (German Edition)
schlafen könnte, aber irgendwann schloss sie die Augen, und als sie sie wieder öffnete, war der Himmel, der durch den langen Fensterschlitz zu sehen war, strahlend blau.
Geweckt hatte sie das Geräusch von Schritten über ihr und die aufgeregte Stimme ihrer Mutter. Sie war am Telefon in der Küche und lief unruhig auf und ab.
»Ich habe die Polizei schon angerufen, Chris«, sagte V ics Mutter. »Die haben mir gesagt, dass sie nach Hause kommen wird, wenn sie bereit dazu ist.« Und dann sagte sie: »Nein! Nein, das werden sie nicht, weil sie kein vermisstes Kind ist. Sie ist verdammte siebzehn Jahre alt, Chris.«
V ic war nahe dran, von ihrem Sessel aufzustehen und nach oben zu gehen. Aber dann dachte sie: Scheiß auf meine Mutter. Scheiß auf sie beide. Und sank wieder in den Sessel zurück.
Noch im selben Moment wusste sie, dass es falsch und ziemlich gemein von ihr war, sich hier unten zu verstecken, während ihre Mutter oben einen Panikanfall bekam. Aber genauso gemein war es, das Zimmer der eigenen Tochter zu durchwühlen, ihr Tagebuch zu lesen und ihr Sachen wegzunehmen, die sie mit ihrem eigenen Geld gekauft hatte. Und wenn V ic ab und zu mal Ecstasy nahm, war das auch die Schuld ihrer Eltern, die sich hatten scheiden lassen. Ihr V ater war schuld, weil er ihre Mutter geschlagen hatte. Inzwischen wusste sie, dass er das getan hatte. Sie hatte nicht vergessen, wie er sich damals die Fingerknöchel in der Spüle abgewaschen hatte. Auch wenn die großschnäuzige, besserwisserische Schlampe da oben es nicht anders verdient hatte. V ic wünschte sich, sie hätte jetzt ein bisschen X. Eine Tablette steckte in der Federmappe in ihrem Rucksack, aber der befand sich oben. Ob ihre Mutter wohl das Haus verlassen würde, um nach ihr zu suchen?
»Aber du bist nicht derjenige, der sie großzieht, Chris! Ich mache das! Ich mache das ganz allein!« Linda schrie fast, und V ic hörte die Tränen in ihrer Stimme und hätte es sich beinahe doch noch anders überlegt. Aber sie blieb sitzen. Es war, als wären die Graupelschauer der letzten Nacht durch ihre Haut in ihr Blut gelangt und hätten es abgekühlt. Sie sehnte sich nach dieser Kälte, dieser eisigen Stille – in der alle unangenehmen Gefühle und schlechten Gedanken einfroren.
Ihr wolltet mich loswerden, und jetzt bin ich weg, dachte V ic.
Ihre Mutter knallte den Hörer auf den Apparat, riss ihn noch einmal hoch und knallte ihn erneut nieder.
V ic rollte sich unter den Mänteln zusammen und …
… war innerhalb von fünf Minuten wieder eingeschlafen.
Der Keller
A ls sie das nächste Mal aufwachte, war es später Nachmittag, und das Haus war leer. Sie wusste es in dem Moment, als sie die Augen aufmachte, erkannte es an der besonderen Stille. Ihre Mutter konnte es nicht leiden, wenn es im Haus völlig ruhig war. Schlief sie, dann ließ sie einen V entilator laufen, war sie wach, dann plapperte der Fernseher oder sie selber.
V ic schälte sich aus dem Sessel, ging durch den Raum und stieg auf eine Kiste, um aus einem der Fenster an der V orderseite des Hauses zu spähen. Der verrostete Datsun ihrer Mutter war nicht da. V ic verspürte eine gehässige Freude bei dem Gedanken, dass ihre Mutter womöglich durch ganz Haverhill fuhr, um nach ihr zu suchen, im Shoppingcenter, in den Seitenstraßen oder den Häusern ihrer Freunde.
Ich könnte tot sein, hörte sie eine hohle Stimme Unheil dräuend in ihrem Kopf sagen. Vergewaltigt und am Fluss zum Sterben liegen gelassen. Und es wäre alles deine Schuld, du autokratische Hexe. V ic kannte eine Menge Wörter wie »dräuend« oder »autokratisch«. Auch wenn sie in der Schule nur Dreien bekam – sie hatte Gerard Manley Hopkins und W. H. Auden gelesen und war um Lichtjahre schlauer als ihre Eltern.
V ic steckte ihre immer noch feuchten Turnschuhe in den Trockner und ging nach oben, um vor dem Fernseher eine Schale Lucky Charms zu essen. Sie holte ihre Notfalltablette Ecstasy aus ihrer Federmappe. Zwanzig Minuten später fühlte sie sich angenehm leicht. Wenn sie die Augen schloss, hatte sie das wunderbare Gefühl, durch die Luft zu segeln wie ein Papierflugzeug im Wind. Sie schaltete auf den Travel Channel, und bei jedem Flugzeug, das sie sah, breitete sie die Arme wie Flügel aus und tat so, als würde sie fliegen. Ecstasy war Bewegung in Tablettenform. So als würde man mit einem offenen Cabrio durch die Dunkelheit fahren, nur dass man dafür nicht mal vom Sofa aufstehen musste.
Sie wusch Schüssel und Löffel in
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