Christmasland (German Edition)
auf den Ästen einer dicken Birke hockten, schimpfte, als sie unter ihnen hindurchjagte.
Vielleicht wenn du uns einen bläst, hallte es in ihrem Kopf nach, und einen eisigen Moment lang fragte sich das siebzehnjährige Mädchen auf dem Kinderfahrrad, wie es wohl wäre, zurückzufahren, vom Rad zu steigen und zu sagen: Also gut. Wer will als Erster? Ihre Mutter hielt sie ohnehin schon für eine Hure. Und V ic wollte sie doch nicht enttäuschen.
Eine Weile lang hatte sie es genossen, auf ihrem alten Fahrrad über den Hügel zu rasen, aber inzwischen war das Glücksgefühl verraucht und hatte einer kalten Wut Platz gemacht. Allerdings war V ic sich nicht sicher, auf wen sie eigentlich wütend war. Ihre Wut war auf nichts Konkretes gerichtet. Sie war ein sanftes Wirbeln von Gefühlen, das zum sanften Wirbeln der Radspeichen passte.
Sie dachte darüber nach, zum Shoppingcenter zu fahren, aber der Gedanke an ihre Mitschülerinnen hielt sie davon ab. Sie war nicht in der Stimmung, sich mit Leuten zu treffen, die sie kannte, und sie wollte sich auch keine guten Ratschläge anhören. Sie wusste nicht, wohin sie fahren sollte, aber sie hatte Lust auf ein bisschen Ärger. Wenn sie nur lange genug durch die Gegend fuhr, würde sich schon was Passendes finden.
Ihre Mutter dachte wahrscheinlich, sie sei längst in Schwierigkeiten geraten und würde irgendwo tot im Straßengraben liegen, dachte V ic mit einem gewissen Gefühl der Befriedigung. Es war fast schade, dass der Spaß am Abend schon vorbei sein und ihre Mutter wissen würde, dass sie noch am Leben war. Beinahe wünschte sie sich, für immer zu verschwinden, auf Nimmerwiedersehen. Wie herrlich wäre das, wenn sich ihre Eltern fragen müssten, ob ihre Tochter überhaupt noch lebte.
Tagelang, wochenlang würden sie von schrecklichen Fantasien verfolgt werden und sich fragen müssen, was mit ihr geschehen war. Der Gedanke gefiel ihr! Ihre Eltern würden sich vorstellen, wie sie durch den Eisregen gelaufen war, zitternd und elend, und dankbar in das erste Auto eingestiegen war, das für sie angehalten hatte. Möglicherweise war sie im Kofferraum dieses Wagens ( V ic war sich gar nicht bewusst, dass sie an eine alte Nobelkarosse dachte) sogar noch am Leben. Und sie würden nie erfahren, wie lange der alte Mann (er musste alt sein, weil sein Auto es auch war) sie bei sich behielt, was er mit ihr anstellte oder wo er ihre Leiche verscharrte. Das wäre viel schlimmer, als selbst zu sterben – niemals zu wissen, welch schrecklichem Menschen V ic begegnet war, zu welchem abgelegenen Ort er sie gebracht und was für ein Ende sie gefunden hatte.
Inzwischen befand V ic sich auf der breiten Schotterstraße, die zum Merrimack führte. Eicheln knackten unter ihren Reifen. Sie hörte das Rauschen des Flusses, der durch sein steinernes Bett strömte. Es war eines der schönsten Geräusche der Welt, und sie hob den Kopf, um den Ausblick zu genießen – aber die Shorter Way Bridge versperrte ihr die Sicht.
V ic zog an der Bremse und ließ das Raleigh langsam ausrollen.
Die Brücke war noch baufälliger, als sie sie in Erinnerung hatte. Sie neigte sich bedrohlich nach rechts, und es sah so aus, als könnte eine starke Windbö sie in den Merrimack stürzen lassen. Der schiefe Eingang war von Efeu umrahmt. V ic roch die Fledermäuse und sah am anderen Ende einen schwachen Lichtschein.
Sie zitterte wegen der Kälte, aber auch vor Freude. Mit ruhiger Gewissheit wusste sie, dass etwas mit ihrem Kopf nicht stimmte. Sie hatte schon öfter Ecstasy genommen und noch nie Halluzinationen gehabt. Es gab wohl für alles ein erstes Mal.
Die Brücke wartete darauf, dass V ic hinüberfuhr. Und wenn V ic das tat, würde sie abstürzen, das wusste sie. Sie würde den Leuten für immer in Erinnerung bleiben als das Mädchen, das im Drogenrausch eine Böschung hinuntergestürzt war und sich den Hals gebrochen hatte. Die Aussicht schreckte sie nicht. Das wäre fast so gut, wie von einem grässlichen alten Mann (dem Wraith) entführt zu werden und spurlos zu verschwinden.
Und obwohl sie wusste, dass die Brücke eigentlich nicht da war, interessierte sie doch, was sich auf der anderen Seite befand. V ic richtete sich auf den Pedalen auf und fuhr näher heran, bis zum Brückenrand, wo der Holzrahmen auf der Straße au fl ag.
Zwei Wörter standen in grüner Sprühfarbe zu ihrer Linken an der Innenwand.
SLEIGH HOUSE
1996
Haverhill
V ic beugte sich vor, nahm ein Stück Schiefer und warf es in die
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