Christmasland (German Edition)
Brücke hinein. Mit einem Poltern traf es auf dem Holz auf und hüpfte noch ein Stück weiter. V on oben war ein leises Rascheln zu hören. Die Fledermäuse.
Die Halluzination machte einen ziemlich stabilen Eindruck. Aber vielleicht hatte sie sich auch das Stück Schiefer nur eingebildet.
Es gab zwei Möglichkeiten, die Brücke zu testen. Sie könnte noch dreißig Zentimeter weiterrollen und mit dem V orderrad hinauffahren. Wenn die Brücke nur Einbildung war, könnte sie sich möglicherweise noch rechtzeitig nach hinten werfen, um nicht abzustürzen.
Oder sie könnte einfach losfahren. Die Augen schließen und sich von ihrem Raleigh ans andere Ende der Brücke tragen lassen – was auch immer sie dort erwartete.
Sie war siebzehn Jahre alt und hatte nicht die geringste Angst. Ihr gefiel das Rascheln des Efeus im Wind. Sie setzte die Füße auf die Pedale und fuhr los. Sie hörte, wie die Reifen über das Holz polterten und die Bohlen unter ihr knarrten. Sie hatte keineswegs das Gefühl, zu fallen und der eisigen Kälte des Merrimack River unter ihr entgegenzustürzen. Sie hörte lediglich ein weißes Rauschen, das immer lauter wurde. Und sie spürte einen leichten Schmerz in ihrem linken Auge.
Sie glitt durch die vertraute Dunkelheit. In den Ritzen zwischen den Brettern flackerte der Lichtsturm. Ein Drittel der Strecke hatte sie bereits zurückgelegt, und am anderen Ende der Brücke konnte sie ein schäbiges weißes Haus mit angebauter Garage sehen. Das Sleigh House, was immer das war.
Der Name sagte ihr nichts, und das war auch nicht wichtig. Sie wusste ungefähr, wohin sie fuhr, auch wenn der Ort selbst ihr unbekannt war.
Sie war auf Ärger aus, und die Shorter Way Bridge hatte sie noch nie in die Irre geführt.
Das andere Ende der Brücke
I nsekten zirpten im Unterholz. In New Hampshire war es kühl und frühlingshaft gewesen, aber hier – wo immer sich dieses Hier befand – war die Luft angenehm warm. Aus den Augenwinkeln sah V ic Lichtblitze, ein helles Schimmern zwischen den Bäumen, aber anfangs dachte sie nicht weiter darüber nach.
Sie fuhr von der Brücke auf den nackten Waldboden. Dort bremste sie und stellte einen Fuß auf. Sie drehte den Kopf, um zur Brücke zurückzublicken.
Die Shorter Way Bridge befand sich zwischen den Bäumen neben dem Haus und erstreckte sich quer durch den Wald. Als V ic hindurchblickte, sah sie Haverhill auf der anderen Seite, grün und schattig im Licht des späten Nachmittags.
Das Haus, ein weißer Cape-Cod-Bau, stand allein am Ende einer langen, unbefestigten Straße. Im V orgarten wuchs das Gras hüfthoch und dazwischen große Büsche Giftefeu.
Die Rollos hinter den Fenstern waren heruntergelassen, und die Fliegengitter waren verrostet und ausgebeult. In der Einfahrt stand kein Auto, und es gab keinen Grund zu der Annahme, dass irgendjemand zu Hause war. Dennoch jagte das Haus V ic sofort mächtige Angst ein, und sie glaubte nicht, dass es leer stand. Es war ein schrecklicher Ort, und ihr erster Gedanke war, dass die Polizei, sollte sie ihn jemals durchsuchen, im Garten vergrabene Leichen finden würde.
Als sie in die Brücke hineingefahren war, hatte sie das Gefühl gehabt, durch die Luft zu segeln, so mühelos wie ein Falke im Wind. Sie war dahingerauscht und hatte sich unbesiegbar gefühlt. Selbst jetzt, mit einem Fuß auf der Erde, meinte sie weiter dahinzugleiten, aber das Gefühl war nicht länger angenehm. Nun wurde sie zu etwas hingezogen, was sie nicht sehen wollte, worüber sie gar nichts wissen wollte.
V on irgendwoher kam der leise Klang eines Fernsehers oder Radios.
V ic sah noch einmal zur Brücke zurück. Sie war nur ein paar Meter entfernt. V ic atmete aus und sagte sich, dass ihr keine Gefahr drohte. Wenn jemand sie entdeckte, könnte sie einfach umkehren, mit dem Rad wieder auf die Brücke fahren und verschwinden.
Sie stieg ab und schob das Fahrrad vorwärts. Mit jedem knirschenden Schritt wurde ihr stärker bewusst, dass ihre Umgebung real war und keine vom Ecstasy hervorgerufene Halluzination. Während sie sich der Hütte näherte, wurde das Radio lauter.
Als V ic einen Blick auf die Bäume warf, sah sie darin erneut etwas funkeln, glitzernde Splitter zwischen den Tannenzweigen. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, was sie da sah. Sie blieb stehen und blickte ungläubig zu den Bäumen hoch. Die Tannen rund um das Haus waren über und über mit Weihnachtsschmuck behängt. Große, mit Glitter verzierte Gold- und Silberkugeln
Weitere Kostenlose Bücher