Christmasland (German Edition)
Im Kofferraum fand sich lediglich die Handtasche einer Frau namens Cynthia McCauley, die vor drei Tagen mit ihrem Sohn Brad am JFK Airport verschwunden war. Weder Brad noch Cynthia wurden jemals wieder gesehen. Niemand konnte sich das seltsame Poltern erklären, das vom Heck des Wagens gekommen war, und ebenso wenig das Fenster, das hochgefahren, und die Tür, die aufgeflogen war. Es hatte fast so ausgesehen, als würde das Auto ein Eigenleben besitzen.
Als Sam Cleary bei den beiden Männern angelangt war, die am Boden miteinander rangen, hob er den Feuerlöscher mit beiden Händen und drosch ihn Charlie Manx auf den Kopf. Keine dreißig Sekunden später verwendete er ihn gleich ein weiteres Mal, um die Flammen an Tom Priests Körper zu löschen, der zu diesem Zeitpunkt bereits tot war.
Und gut durchgebraten.
ZWISCHENSPIEL:
DER GEIST DER VERZÜCKUNG
2000–2012
Gunbarrel, Colorado
A ls V ic zum ersten Mal ein Ferngespräch aus dem Christmasland entgegennahm, war sie eine unverheiratete Mutter, die mit ihrem Freund in einem Trailer wohnte, und es schneite in Colorado.
V ic hatte ihr ganzes Leben in Neuengland verbracht und glaubte deshalb, sich mit Schnee auszukennen, aber in den Rockies war es anders. Der Schnee fiel schnell und gleichmäßig zu Boden, und das Licht wirkte irgendwie blau, als wäre man in einer geheimen Welt unter einem Gletscher gefangen, in einer weihnachtlichen Winterlandschaft.
Oft ging V ic in ihren Mokassins und einem von Lous riesigen T-Shirts (die sie als Nachthemden benutzte) nach draußen in das bläuliche, trübe Licht und lauschte dem Schnee und dem Rauschen der Tannenzweige. Sie stand da und atmete den süßen Geruch von Holzrauch und Wald ein und fragte sich, wie um alles in der Welt sie bloß hierhergelangt war, dreitausend Kilometer von ihrer Heimat entfernt, mit schmerzenden Brüsten und ohne Job.
Soweit sie sich erinnerte, war es ein Racheakt gewesen. Nachdem sie an der Haverhill High ihren Abschluss gemacht hatte, war sie nach Colorado zurückgekehrt, um eine Kunsthochschule zu besuchen. Ihre Mutter war strikt dagegen gewesen, und ihr V ater hatte sich geweigert, für die Kosten aufzukommen. Und es hatte noch mehr gegeben, was ihre Mutter in Rage versetzt hatte und wovon ihr V ater nichts hatte wissen wollen: Dass V ic Gras rauchte und die Schule schwänzte, um Ski fahren zu gehen, dass sie mit Mädchen rumknutschte und schließlich mit dem übergewichtigen, vorbestraften Typen zusammenzog, der sie vor Charlie Manx gerettet hatte. Dass sie schwanger wurde, ohne verheiratet zu sein. Linda hatte immer gesagt, mit einem unehelichen Kind wolle sie nichts zu tun haben, deshalb hatte V ic sie nach der Geburt auch nicht eingeladen. Und als Linda dennoch angeboten hatte, sie zu besuchen, hatte V ic abgelehnt. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihrem V ater ein Foto von dem Kind zu schicken.
Sie erinnerte sich noch, was für ein tolles Gefühl es gewesen war, bei einer Tasse Kaffee in einem Yuppie-Café in Boulder in Lou Carmodys Gesicht zu blicken und mit fröhlicher Stimme zu sagen: »Also, wahrscheinlich sollte ich dich jetzt vögeln, weil du mir das Leben gerettet hast, oder? Ist doch das Mindeste, was ich tun kann. Willst du noch deinen Kaffee austrinken, oder gehen wir gleich zu dir?«
Nach dem ersten Mal gestand Lou ihr, dass er noch nie mit einem Mädchen geschlafen hatte. Sein Gesicht war leuchtend rot gewesen, von der Anstrengung und vor Scham. Mit zwanzig noch Jungfrau: Wer sagte, dass es keine Wunder mehr auf der Welt gab?
Manchmal nahm V ic es Louis übel, dass er mehr wollte als Sex. Er musste sie unbedingt lieben. Er wollte sich mit ihr unterhalten. Letzteres war ihm sogar fast noch wichtiger als Sex. Er wollte Dinge für sie tun, ihr Sachen kaufen, sich zusammen Tätowierungen stechen lassen und gemeinsam verreisen. Manchmal hasste sie sich selbst dafür, dass sie sich darauf einließ. Eigentlich hatte sie stärker sein wollen: Sie hatte ein-, zweimal mit ihm ins Bett gehen wollen – um sich danach eine Freundin zu suchen, mit rosa Haarsträhnchen und gepiercter Zunge. Das Problem war nur, dass sie Jungs lieber mochte als Mädchen und ihr Lou besser gefiel als die meisten anderen Jungen. Er roch gut, bewegte sich gemächlich und war so schwer aus der Ruhe zu bringen wie eine Figur aus dem Hundert- Morgen-Wald. Und auch genauso weich. Es ärgerte sie, dass sie ihn gern berührte und sich an ihn anlehnte. Ihr Körper ließ sie ständig im Stich und
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