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Christmasland (German Edition)

Christmasland (German Edition)

Titel: Christmasland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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hatte es etwas mit der Geschwindigkeit zu tun. Wenn V ic nur schnell genug fuhr, könnte sie die Brücke erneut Gestalt annehmen lassen und von der unebenen Straße auf die alten Holzbohlen gelangen. Aber sie traute sich nicht, noch weiter zu beschleunigen, weil sie fürchtete, die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Und es gelang ihr nie, die Shorter Way Bridge zu erreichen.
    V ielleicht wenn sie ihr Fahrrad wiederhätte. Wenn es Sommer wäre.
    Und wenn sie nicht so dumm gewesen wäre, ein Kind zu bekommen. Das war ein großer Fehler gewesen. Jetzt saß sie in der Falle. Sie liebte Wayne zu sehr, um das Gaspedal ganz durchzutreten und in die Dunkelheit hineinzurauschen.
    Sie hatte immer gedacht, Liebe und Glück würden zusammengehören, aber wie sich herausstellte, waren sie nicht einmal entfernt miteinander verwandt. Liebe war ein Bedürfnis, vergleichbar mit dem nach Essen und Luft. Wenn Wayne einschlief, seine warme Wange an ihre nackte Brust gedrückt, während sein Mund noch süß nach Muttermilch roch, hatte sie das Gefühl, sie sei diejenige, die gestillt worden war.
    V ielleicht konnte sie die Brücke deshalb nicht mehr Gestalt annehmen lassen, weil es nichts mehr zu finden gab. Womöglich hatte sie schon alles gefunden, was die Welt ihr zu bieten hatte – eine V orstellung, die sie beinahe zur V erzwei fl ung trieb.
    Mutter zu sein war etwas Furchtbares. Sie wollte eine Webseite einrichten, eine Aufklärungskampagne durchführen und Newsletter verschicken, um die ganze Welt darauf aufmerksam zu machen: Eine Frau, die ein Kind bekam, verlor alles. Sie endete als Geisel der Liebe – das Kind war ein Terrorist, der erst zufrieden war, wenn man ihm seine gesamte Zukunft geopfert hatte.
    Die Holzfällerstraße endete an einer Kiesgrube, wo V ic umkehrte. Wie so oft bekam sie auf dem Rückweg zum Highway Kopfschmerzen.
    Nein. Eigentlich keine Kopfschmerzen. Eher ein leises Pochen in ihrem linken Auge.
    Sie fuhr zurück zur Werkstatt und sang ein paar Nirwana-Songs mit. Cobain wusste, was für ein Gefühl es war, seine magische Brücke zu verlieren, die einen zu den Dingen brachte, die man suchte. Es schmeckte wie ein Gewehrlauf im Mund – wie Gunbarrel, Colorado, vielleicht.
    Sie parkte in der Werkstatt, blieb hinter dem Lenkrad in der Kälte und beobachtete, wie sich der Atem vor ihrem Gesicht wölkte. Wahrscheinlich wäre sie dort einfach sitzen geblieben, für immer, wenn nicht das Telefon geklingelt hätte.
    Es befand sich an der Wand vor dem Büro, das Lou nie benutzte, und war so alt, dass es noch eine Wählscheibe besaß – wie das Telefon in Charlie Manx’ Haus. Sein Klingeln klang schrill und blechern.
    V ic runzelte die Stirn.
    Das Telefon in der Werkstatt hatte eine eigene Leitung und wurde von ihnen scherzhaft »der Geschäftsanschluss« genannt. Niemand rief jemals dort an.
    Sie sprang vom Fahrersitz gut einen Meter tief auf den Betonboden. Beim dritten Klingeln nahm sie ab.
    »Carmody’s Car Carma«, sagte sie.
    Das Telefon war beinahe schmerzhaft kalt. Um ihre Hand herum beschlug das Plastik des Hörers.
    Ein Zischen war zu hören, als würde der Anruf aus weiter Ferne kommen. Im Hintergrund vernahm V ic Kinderstimmen, die ein Weihnachtslied sangen. Dafür war es eigentlich noch ein bisschen früh – sie hatten erst Mitte November.
    Ein Junge räusperte sich.
    »Hallo? Kann ich dir helfen?«
    »Ähm, ja«, sagte der Junge. »Ich bin Brad. Brad McCauley. Ich rufe vom Christmasland aus an.«
    Der Name des Jungen kam ihr irgendwie bekannt vor, aber sie konnte ihn zunächst nicht einordnen.
    »Brad«, sagte sie. »Was kann ich für dich tun? Woher, hast du gesagt, rufst du an?«
    »Aus dem Christmasland«, sagte er. »Du kennst mich doch. Ich war damals im Auto. Im Haus von Mr. Manx. Du erinnerst dich sicher. Wir hatten eine Menge Spaß miteinander.«
    Ihre Brust fühlte sich eiskalt an. Sie hatte Schwierigkeiten zu atmen.
    »Ach, komm schon«, sagte sie. »Das ist doch krank!«
    »Warum ich anrufe«, sagte er. »Wir haben hier alle großen Hunger. Wir haben ewig nichts zu essen bekommen, und wozu hat man so viele Zähne, wenn man sie nicht benutzen kann?«
    »Wenn du mich noch mal anrufst, jage ich dir die Bullen auf den Hals, du irrer Wichser«, sagte sie und knallte den Hörer auf die Gabel.
    V ic legte eine Hand vor den Mund und machte ein Geräusch, das halb Schluchzen und halb wütender Aufschrei war. Zusammengekrümmt stand sie zitternd in der eiskalten Werkstatt.
    Als sie sich

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