Christmasland (German Edition)
Mörder, der Dutzende Kinder entführt haben soll, wurde ins Spital des FCI Englewood überführt, nachdem er eines Tages eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht war.
Manx wurde von dem prominenten Neurochirurgen Marc Sopher aus Denver untersucht, der ihn als einzigartigen Fall beschrieb.
»Der Patient leidet unter vorzeitiger V ergreisung, vielleicht einer seltenen Form des Werner-Syndroms«, so Sopher. » V ereinfacht gesagt altert er sehr schnell. Ein Monat ist für ihn wie ein ganzes Jahr. Ein Jahr wie ein Jahrzehnt. Und er war auch vorher kein Jungspund mehr.«
Dem Arzt zufolge lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob Manx’ Krankheit sein abnormales V erhalten erklären könnte, das unter anderem zu dem brutalen Mord an Private Thomas Priest im Jahr 1996 geführt hatte. Er lehnte es zudem ab, Manx’ derzeitigen Zustand als Koma zu bezeichnen.
»Streng genommen erfüllt er die Definition eines Komas nicht. Seine Hirnfunktionen sind äußerst rege – so als würde er träumen. Er kann nur nicht mehr aufwachen. Sein Körper ist zu erschöpft. Er hat kein Benzin mehr im Tank.«
Bing hatte oft darüber nachgedacht, Mr. Manx zu schreiben, um ihm mitzuteilen, dass er immer noch an ihn glaubte und ihn liebte. Dass er ihn immer lieben und sich bis an sein Lebensende für ihn bereithalten würde. Aber obwohl Bing nicht gerade die hellste Leuchte am Weihnachtsbaum war – ha, ha –, war er doch klug genug, um zu wissen, dass Mr. Manx wütend sein würde, wenn er ihm schrieb. Und das zu Recht. Täte Bing das, würden bald Männer in Anzügen an seine Tür klopfen – Männer mit Sonnenbrillen und Pistolenhalfter unter den Armen. Hallo, Mr. Partridge, wären Sie so freundlich, uns ein paar Fragen zu beantworten? Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns ein wenig in Ihrem Keller umsehen? Deshalb hatte er es nie getan, und jetzt war es zu spät, und der Gedanke stimmte ihn traurig.
Einmal hatte Mr. Manx Bing eine Nachricht zukommen lassen, auch wenn Bing keine Ahnung hatte, wie ihm das gelungen war. Zwei Tage nachdem Manx seine lebenslängliche Haftstrafe im Englewood angetreten hatte, war ein Päckchen ohne Absender in seinem Briefkasten gelandet. Darin befanden sich zwei Nummernschilder – NOS4A2/KANSAS – und eine kleine Karte aus elfenbeinfarbenem Karton mit einem Weihnachtsengel auf der V orderseite. *
Die Nummernschilder befanden sich jetzt in Bings Keller, wo er auch die anderen Überbleibsel seiner Ausflüge mit Charlie Manx vergraben hatte: die leeren Sevofluranflaschen, die .45er seines V aters und die Gebeine der Frauen, die Bing nach seinen Rettungsmissionen mit Mr. Manx mit nach Hause genommen hatte … neun insgesamt.
Brad McCauley war das neunte Kind gewesen, das sie gemeinsam gerettet hatten, und seine Mutter Cynthia die letzte Hure, die Bing in seinen Keller gebracht hatte. Eigentlich war auch sie vor ihrem Tod noch gerettet worden, denn Bing hatte sie das Lieben gelehrt.
Im Sommer des Jahres 1997 hatten Bing und Mr. Manx ein weiteres Kind retten wollen, dann hätte Bing Mr. Manx ins Christmasland begleiten dürfen, wo niemand alterte und Unglücklichsein gegen das Gesetz verstieß. Er hätte Karussell fahren können und so viel Kakao trinken dürfen, wie er wollte. Und jeden Morgen Weihnachtsgeschenke öffnen. Wenn er über die himmelschreiende Ungerechtigkeit nachdachte, dass Mr. Manx ausgerechnet dann ins Gefängnis geworfen worden war, als sich die Tore des Christmaslands für Bing hätten öffnen sollen, überkam ihn eine große Niedergeschlagenheit. All seine Hoffnungen waren wie eine V ase zerbrochen, die aus großer Höhe herabgefallen und zersprungen war.
Das Schlimmste war jedoch nicht, dass er Mr. Manx verloren hatte oder dass er nun nie ins Christmasland gelangen würde. Es war der V erlust der Liebe. Der V erlust der Mütter.
Die letzte, Mrs. McCauley, war die beste gewesen. Sie hatten im Keller lange Gespräche geführt, während Bing sich an ihren nackten, sonnengebräunten Körper gedrückt hatte. Mit ihren vierzig Jahren war sie ungewöhnlich muskulös gewesen, weil sie eine V olleyballmannschaft für Mädchen trainiert hatte. Ihre Haut hatte Wärme und Gesundheit ausgestrahlt. Sie hatte das grau werdende Haar auf Bings Brust gestreichelt und ihm gesagt, dass sie ihn mehr liebte als ihre Eltern, als Jesus oder ihren eigenen Sohn, mehr noch als kleine Kätzchen oder Sonnenschein. Es war ein tolles Gefühl gewesen, sie sagen zu hören: »Ich liebe dich, Bing Partridge. Ich
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