Christmasland (German Edition)
Tränen auszubrechen.
In diesem Moment kochte der Topf mit den Würstchen über, und das heiße Wasser tropfte zischend in die blauen Flammen des Gaskochers. Ohne sich darum zu kümmern, sank V ic auf den Küchenboden nieder und legte die Hand vor die Augen. Sie musste sich wirklich zusammenreißen, damit sie nicht losschluchzte. Sie wollte Wayne keine Angst einjagen.
»He!«, rief der Junge, und sie sah blinzelnd hoch. »Da ist was mit Oscar passiert!«
Mit »Oscar« meinte er die Sesamstraße . »Da ist was passiert, und Oscar ist weg.«
V ic wischte sich die feuchten Augen ab, holte zitternd Luft und schaltete das Gas aus. Auf unsicheren Beinen ging sie zum Fernseher. Die Sesamstraße war durch eine Nachrichtensendung unterbrochen worden. Ein Flugzeug war in einen der Türme des World Trade Centers in New York geflogen. Schwarzer Rauch stieg in den blauen Himmel auf.
Ein paar Wochen später räumte V ic im zweiten Schlafzimmer, das kaum größer war als ein Wandschrank, eine Ecke frei und stellte dort eine Staffelei mit Zeichenkarton auf.
»Was machst du da?«, fragte Lou, als er den Kopf zur Tür hereinstreckte.
»Ich will ein Bilderbuch zeichnen«, sagte V ic. Die erste Seite hatte sie schon mit blauem Buntstift vorgezeichnet. Sie konnte nun bald mit dem Tuschen beginnen.
Lou sah ihr über die Schulter. »Was soll das werden? Eine Motorradfabrik?«, fragte er.
»Fast. Es ist eine Roboterfabrik«, sagte sie. »Der Held ist ein Roboter namens Search Engine. Auf jeder Seite muss er durch ein Labyrinth laufen und ein paar wichtige Gegenstände finden. Batterien, geheime Pläne und solche Sachen.«
»Echt cool, dein Bilderbuch. Wayne wird total begeistert sein.«
V ic nickte. Sollte Lou ruhig denken, dass sie es für den Jungen tat. Sie gab sich jedoch keinen Illusionen hin. In Wahrheit tat sie es für sich selbst.
Das Bilderbuch war besser als die Harleys. Es war immer da, und sie konnte jeden Tag daran arbeiten.
Nachdem sie damit angefangen hatte, hörte das Telefon auf zu klingeln, es sei denn, die Bank rief an, weil ihr Konto im Minus steckte.
Und nachdem sie das Buch verkauft hatte, war auch mit diesen Anrufen Schluss.
Brandenburg, Kentucky
M ichelle Demeter war zwölf, als ihr V ater sie das erste Mal mit dem Wagen fahren ließ. Eine Zwölfjährige, die im Frühsommer einen 1938er Rolls-Royce Wraith durch das hohe Gras steuerte. Die Fenster waren heruntergekurbelt, und im Radio lief Weihnachtsmusik. Michelle sang laut und fröhlich mit, wenn auch völlig schief. An Stellen, wo sie den Text nicht genau kannte, improvisierte sie etwas.
Die redlichen Hirten steh’n kniend davor,
Hoch droben schwebt Josef den Engeln was vor!
Der Wagen durchkreuzte das Gras wie ein schwarzer Hai, der durch einen wogenden gelbgrünen Ozean schwamm. V ögel flogen vor ihm auf und flatterten in den zitronengelben Himmel. Die Räder holperten über unsichtbare Spurrillen.
Michelles V ater saß ziemlich betrunken auf dem Beifahrersitz und drehte am Radioempfänger, ein warmes Coors zwischen den Beinen. Aber ganz gleich, welchen Frequenzbereich er auch anwählte, aus dem Lautsprecher drang nur weißes Rauschen. Der einzige Sender, den er hereinbekam, hatte einen schlechten Empfang und spielte diese verdammte Weihnachtsmusik.
»Wer sendet denn Mitte Mai solchen Quatsch?«, fragte er und rülpste laut.
Michelle kicherte.
Das Radio ließ sich weder ausschalten noch leiser drehen. Der Lautstärkeregler funktionierte nicht.
»Dieser Wagen hat Ähnlichkeit mit deinem V ater«, sagte Nathan, holte ein weiteres Coors aus dem Sixpack zu seinen Füßen und zog die Lasche auf. »Er ist bloß noch ein Schatten seiner selbst.«
Ihr V ater redete mal wieder Unsinn. Eigentlich ging es ihm gar nicht so schlecht. Er hatte irgendein V entil für Boeing erfunden und mit dem Geld dreihundert Morgen Land am Ohio River gekauft. Darauf fuhren sie gerade herum.
Der Wagen dagegen hatte tatsächlich schon bessere Zeiten erlebt. Er besaß keinen Bodenbelag mehr. Zu Michelles Füßen befand sich das nackte Metall, und unter den Pedalen waren Löcher, durch die sie das Gras sehen konnte. Der Lederbezug auf dem Armaturenbrett blätterte ab. Eine der hinteren Türen passte nicht zu den anderen, war unlackiert und rostzerfressen. Ein Heckfenster gab es nicht. Stattdessen gähnte dort nur ein rundliches Loch. Auch die Rückbank existierte nicht mehr, und der Kofferraum war mit Ruß überzogen. Es sah aus, als hätte jemand versucht, ein
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