Christmasland (German Edition)
Ihn mir anzuvertrauen? Nach allem, was ich getan habe?«
»Ach, komm schon«, sagte Lou. »Wenn du bereit bist, wieder in den Ring zu steigen, dann ist er es auch.«
V ic erinnerte Lou lieber nicht daran, dass Menschen normalerweise in den Ring stiegen, um sich gegenseitig zu verprügeln. Aber vielleicht war es gar keine so schlechte Metapher. Wayne hätte sicherlich genügend Gründe, ihr eine runterzuhauen. Wenn er jemand zum Abreagieren brauchte, dann wollte V ic sich gern zur V erfügung stellen. Das wäre immerhin auch eine Form der Wiedergutmachung.
Sie mochte dieses Wort. Es wäre schön, wenn man tatsächlich alles wieder gut machen könnte.
Fieberhaft begann sie nach einem Ferienhaus für den Sommer zu suchen, das dem Bild in ihrem Kopf entsprach. Hätte sie noch ihr Raleigh besessen, hätte sie den perfekten Ort innerhalb weniger Minuten finden können. Sie hätte nur kurz über die Shortaway fahren müssen. Natürlich wusste sie, dass ihre Ausflüge über die Shorter Way Bridge in Wirklichkeit nie stattgefunden hatten, das hatte sie spätestens während ihres Aufenthalts in der Klinik in Colorado kapiert. Ihre geistige Gesundheit war etwas sehr Zerbrechliches, wie ein Schmetterling, den sie in den hohlen Händen hielt. Sie fürchtete sich vor dem, was geschehen mochte, wenn sie ihn freiließ – oder ihn versehentlich zerquetschte.
Ohne die Shorter Way Bridge war V ic auf Google angewiesen, so wie alle anderen Menschen auch. Erst Ende April fand sie, wonach sie suchte. Das Ferienhäuschen einer alten Frau mit eigenem Bootssteg und Remise. Das Haus war einstöckig, sodass Linda keine Treppen steigen musste – falls sie so lange durchhielt. Auf der Rückseite des Hauses befand sich sogar eine Rampe für ihren Rollstuhl.
Die Maklerin schickte ein halbes Dutzend Hochglanzfotos, und V ic setzte sich zu ihrer Mutter aufs Bett, um sie gemeinsam anzuschauen.
»Siehst du die Remise?«, sagte V ic. »Die werde ich ausräumen und zu einem Atelier machen. Da drinnen riecht es bestimmt gut. Nach Heu und Pferden. Ich frage mich, warum ich als Kind eigentlich nie eine Pferdephase hatte. Ich dachte, das sei für verwöhnte kleine Mädchen Pflicht.«
»Chris und ich haben dich nie besonders verwöhnt, V icky. Ich hatte Angst davor. Inzwischen glaube ich nicht mal, dass das überhaupt möglich ist. Ein Kind zu sehr zu verwöhnen, meine ich. Aber so was weiß man immer erst hinterher. Wahrscheinlich war ich einfach keine gute Mutter. Ich hatte immer so viel Angst, etwas falsch zu machen, dass ich nur selten etwas richtig gemacht habe.«
V ic überlegte, was sie darauf antworten könnte: Das kommt mir bekannt vor, zum Beispiel. Oder: Du hast dein Bestes gegeben – und damit hast du mir einiges voraus. Und: Du hast mich so sehr geliebt, wie du konntest. Ich wünschte, ich könnte dasselbe von mir behaupten. Aber sie fand ihre Stimme nicht – ihre Kehle war wie zugeschnürt –, und dann war der Moment vorbei.
»Jedenfalls, hast du kein Pferd gebraucht«, sagte Linda. »Du hattest ja dein Fahrrad. V ic McQueens Rennmaschine. Damit hast du Strecken zurückgelegt, bei denen jedes Pferd schlappgemacht hätte. V or ein paar Jahren habe ich mal danach gesucht, weißt du. Ich dachte, dein V ater hätte es in den Keller gebracht, und ich wollte es Wayne schenken. Es schien mir sowieso immer eher ein Jungenfahrrad zu sein. Aber es war verschwunden. Keine Ahnung, wo es hin ist.« Sie schwieg mit halb geschlossenen Augen. V ic stand vorsichtig vom Bett auf. Aber bevor sie die Tür erreicht hatte, fragte Linda: »Du weißt nicht zufällig, was damit passiert ist, V ic? Mit deiner Rennmaschine?«
In ihrer Stimme lag etwas Lauerndes.
»Es ist weg«, sagte V ic. »Mehr weiß ich auch nicht.«
»Das Ferienhaus gefällt mir«, sagte ihre Mutter. »Dein Haus am See. Du hast da etwas Schönes gefunden, V ic. Ich wusste, dass du es schaffen würdest. Dinge zu finden war schon immer deine Spezialität.«
V ic bekam eine Gänsehaut an den Armen.
»Ruh dich aus, Mama«, sagte sie und ging zur Tür. »Freut mich, dass dir das Haus gefällt. Wir werden so bald wie möglich aufbrechen. Es gehört den Sommer über uns, ich muss nur noch den V ertrag unterzeichnen. Dann können wir es uns dort schon mal gemütlich machen – nur du und ich.«
»Klar«, sagte ihre Mutter. »Und auf dem Rückweg halten wir bei Terry’s Primo Subs und trinken einen Milchshake.«
In dem dunklen Raum schien es einen Moment lang noch finsterer zu werden,
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