Christmasland (German Edition)
mussten ihn zu zweit vom Gepäckband hieven. V om Maul des großen Bernhardiners hingen Speichelfäden herab. Zu seinen Füßen lagen die Überreste eines Telefonbuches.
»Was war das denn?«, fragte V ic. »Sein Mittagessen?«
»Er kaut gern auf Dingen herum, wenn er nervös ist«, sagte Wayne. »Genau wie du.«
Sie fuhren zu Lindas Haus, um ein paar Truthahnsandwiches zu essen. Hooper bekam eine Dose Hundefutter und knabberte danach an einem neuen Paar Flip-Flops und an V ics Tennisschläger herum, der sich noch in der Plastikverpackung befand. Selbst mit geöffneten Fenstern roch es im Haus nach Zigarettenasche, Menthol und Blut. V ic konnte es kaum erwarten, von hier wegzukommen. Sie packte Badeanzüge, Zeichenkarton, Tusche und Wasserfarben, den Hund und den Jungen, den sie liebte, aber nicht verdiente, ein und fuhr nach Norden in ihr Sommerhaus.
Vic McQueen versucht sich als Mutter, Teil zwei, dachte sie. Ganz großes Kino.
Lake Winnipesaukee
A n dem Morgen, als Wayne die Triumph fand, saß V ic mit einem Haufen Angelruten auf dem Bootssteg. Sie hatte die Ruten – rostfleckige Relikte aus den Achtzigern – in einem Schrank im Ferienhaus entdeckt. Die Angelschnüre waren zu einem faustgroßen Knäuel verheddert. V ic glaubte, in der Remise einen Angelkasten gesehen zu haben, und bat Wayne, ihn zu holen.
Sie saß auf dem Bootssteg, die nackten Füße ins Wasser getaucht, und kämpfte mit dem Knäuel. Als sie noch Kokain genommen hatte – ja, auch das hatte sie getan –, hätte es ihr nichts ausgemacht, sich stundenlang mit dem Knäuel zu befassen. Sie hätte es genossen wie Sex und hätte den Knoten genauso souverän entwirrt, wie Slash ein Gitarrensolo herunterhämmerte.
Nun gab sie jedoch nach fünf Minuten auf. Es hatte keinen Zweck. Im Angelkasten würde sich ein Messer finden. Man musste wissen, wann es sinnvoll war, eine Schnur lieber durchzuschneiden, als sie zu entwirren.
Außerdem tat ihr das Sonnenlicht, das sich im Wasser spiegelte, in den Augen weh. Besonders im linken. Ihr linkes Auge fühlte sich irgendwie fest und schwer an, als würde es statt aus weichem Gewebe aus Blei bestehen.
V ic streckte sich in der Sonne aus und wartete darauf, dass Wayne zurückkam. Sie wollte ein wenig dösen, aber jedes Mal, wenn sie einnickte, schreckte sie wieder hoch, weil sie im Kopf das Lied des verrückten Mädchens hörte.
V ic hatte das Lied das erste Mal in der Nervenklinik in Denver gehört, damals, nachdem sie ihr Stadthaus niedergebrannt hatte. Das Lied des verrückten Mädchens hatte nur vier Zeilen, aber niemand – weder Bob Dylan noch John Lennon, Byron oder Keats – hätte sich einen aufwühlenderen Text ausdenken können.
Wenn ich sing, machst du kein Auge zu,
Die ganze Nacht lang find’st du keine Ruh’!
Verzweifelt wünscht sich Vic ihr Rad,
Doch seht, ein Rentierschlitten naht!
An ihrem allerersten Abend in der Klinik war sie davon geweckt worden, dass irgendeine Frau in der Geschlossenen dieses Lied sang. Und die Frau hatte es nicht nur vor sich hin geträllert, sie schien es eigens für V ic zu singen.
Drei- oder viermal pro Nacht schrie das verrückte Mädchen sein Lied heraus, meistens dann, wenn V ic gerade am Einschlafen war. Manchmal bekam das Mädchen auch mittendrin einen Lachanfall und konnte das Lied nicht zu Ende bringen.
V ic fing in der Regel an zu schreien. Sie schrie, dass jemand der Schlampe das verfluchte Maul stopfen sollte. Die anderen Patienten stimmten mit ein, und schon bald war die gesamte Station in Aufruhr. V ic brüllte sich heiser, bis die Pfleger kamen und ihr eine Spritze verpassten.
Am Tage suchte V ic die Gesichter der anderen Patientinnen nach Anzeichen von Schuldbewusstsein oder Schlafmangel ab. Aber sie sahen alle schuldbewusst und übernächtigt aus. In den Gruppentherapie-Sitzungen hörte sie den anderen aufmerksam zu, weil sie glaubte, die nächtliche Sängerin vielleicht an ihrer rauen Stimme erkennen zu können. Aber die Patientinnen hatten alle raue Stimmen, von den schwierigen Nächten, dem schlechten Kaffee und den Zigaretten.
Eines Nachts hörte das Singen einfach auf. V ic dachte, das verrückte Mädchen mit seinem verrückten Lied sei in einen anderen Teil des Gebäudes verlegt worden – aus Rücksicht auf die Patienten. Erst ein halbes Jahr nach ihrer Entlassung hatte V ic die Stimme endlich erkannt und wusste, wer das verrückte Mädchen gewesen war.
»Können wir das Motorrad in der Garage benutzen?«, fragte Wayne. Und
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