Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
Liebesgeschichten. Die haben alle ein Happy-end. Im wirklichen Leben ist das meistens viel komplizierter.«
»Wer weiß das besser als ich.«
Clarissa hatte Vertrauen zu dem Rancher gefasst und hätte ihm am liebsten ihren richtigen Namen genannt und verraten, was sie wirklich in die Wildnis trieb. Er wirkte ebenso vertrauenswürdig wie Hört-den-Donner auf sie, ähnelte ihm sogar auf gewisse Weise. In seinen Bewegungen war er beinahe so bedächtig wie der Indianer, bevor er etwas sagte, überlegte er lange, und wenn er einem in die Augen blickte, war keinerlei Misstrauen in seinem Blick. Beinahe war sie versucht, ihn mit »Großvater« anzusprechen, obwohl ihm das sicher nicht gefallen hätte, aber nur, weil er die Bedeutung der Anrede nicht verstand. Es hätte ihr sicher geholfen, mit ihm über Alex und auch über Frank Whittler zu sprechen, doch sie hielt sich zurück und verschob ihre Beichte auf einen späteren Zeitpunkt, vielleicht auf dem Rückweg oder abends zu Hause.
Williams Lake lag einige Meilen östlich vom Fraser River und machte einen wesentlich armseligeren Eindruck, als sie erwartet hatte. Natürlich war es größer als Beaver Creek, und die Straßen waren breiter und besser befestigt, aber die Häuser und Hütten wirkten genauso schäbig. Eine Ausnahme bildeten das Roadhouse an der Wagenstraße vor der Stadt, die aus soliden Baumstämmen gebaute Bank, das zweistöckige Hotel, ein Restaurant, die Polizeistation der Northwest Mounted Police, der Handelsposten und die zahlreichen Kirchen.
Vor allem abseits der Hauptstraße machte die Stadt eher den Eindruck einer ehemaligen Boomtown, die ihre beste Zeit während des großen Goldrauschs vor mehr als dreißig Jahren gehabt hatte und auf dem absteigenden Ast war, seitdem die Wagenstraße an dem Roadhouse weiter östlich vorbeiführte. Selbst das Post Office war schon seit geraumer Zeit geschlossen.
»Williams Lake ist besser, als es aussieht«, sagte Flagler, als er ihren enttäuschten Blick bemerkte, »zumindest gibt es hier einen Gemischtwarenladen, in dem man so ziemlich alles bekommt, was man braucht, und das Essen im Fraser Café ist auch nicht zu verachten.« Er ließ das Zugpferd etwas langsamer gehen. »Warum gehen Sie nicht in den Laden und decken sich mit neuer Kleidung ein, während ich mit Mister Higgins in der Bank spreche? Sagen Sie George … ihm gehört der Gemischtwarenladen … Sagen Sie ihm, dass er mir die Sachen anschreiben soll, außerdem bräuchte ich noch einige Vorräte. Sie wissen ja, was in der Küche fehlt. Ich treffe Sie dann später im Laden … In einer halben Stunde, nehme ich an. Länger brauche ich bei Higgins selten.«
»Oh, Sie brauchen mir die Sachen nicht zu kaufen«, widersprach sie und klopfte auf den Lederbeutel in ihrer Rocktasche. »Ich habe meine Ersparnisse dabei. Nicht besonders viel, aber für einen Reitrock wird es wohl reichen.«
»Kommt gar nicht infrage, die Sachen gehen auf mich. Einen richtigen Lohn kann ich Ihnen sowieso erst im Frühjahr zahlen, wenn ich Bargeld habe. Kaufen Sie alles, was Sie brauchen. Einen Reitrock, den guten aus Leder, einen neuen Rock und eine Bluse, Unterwäsche, die üblichen Kleinigkeiten. Und sparen Sie nicht an den Lebensmitteln. Ted und Rocky sind starke Esser. Noch zwei von ihrer Sorte, und ich müsste meine eigenen Rinder schlachten. Vergessen Sie nicht die Pfirsiche, die esse ich besonders gern.«
Der Rancher parkte vor dem Gemischtwarenladen und half ihr vom Kutschbock. Sie bedankte sich und blieb auf dem überdachten Gehsteig stehen, bis er die Straße überquert und die Bank betreten hatte. Einige Passanten warfen ihr neugierige Blicke zu. Eine verständliche Reaktion, wenn man bedachte, dass sie mit einem eingefleischten Junggesellen wie Jimmy Flagler gekommen war und zum ersten Mal in der Stadt auftauchte. An eine andere Möglichkeit wagte sie nicht zu denken. Immerhin gab es hier eine Polizeistation, und es konnte jederzeit ein Mountie auf der Straße auftauchen und bei ihrem Anblick auf ganz andere Ideen kommen. Sie erschauderte und betrat rasch den Laden, wo sie weniger im Mittelpunkt stand als auf dem Gehsteig.
Die Tür brachte zwei helle Glöckchen zum Klingeln. Sie blieb stehen, bis sich ihre Augen an das düstere Halbdunkel gewöhnt hatten, und war überrascht, wie groß der Laden war. Wie in einem Kaufhaus türmten sich überall die Waren, in den Regalen an der Wand, auf Tischen, in Kisten, Säcken und Körben. In der linken Hälfte des Ladens,
Weitere Kostenlose Bücher