Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
von Menschen befindet, ist man, wenn man Angst hat, völlig alleine.
Renn kam sich vor wie eine Opfergabe, die auf die eigentliche Zeremonie vorbereitet wurde. Nachdem sie sich geweigert hatte zu essen, hatte man sie zu einem Teich gebracht, wo sie sich hatte waschen müssen, während einige Frauen ihr mit Moos den Ruß von den Kleidern gerieben hatten. Halb im Schilf stehend, war es ihr gelungen, das Biberzahnmesser, das immer noch an ihrem Unterschenkel festgebunden war, vor den Augen der Frauen zu verbergen, ebenso die Hühnerknochenpfeife, die sie um den Hals trug; aber als sie zu ihren Kleidern zurückkam, waren die Federn ihres Totemtieres verschwunden.
Im Lager übermannte sie schließlich doch der Hunger, und sie zwang sich, unter den wachsamen Blicken beider Clans etwas von dem Brei herunterzuschlingen. Vernarbte Hände zuckten in stummer Rede und ein junger Mann mit einem Mund wie ein Feuersteinsplitter schärfte eine Axt und schaute dabei immer wieder auf ihre Handgelenke.
Der haarige alte Mann saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden und richtete Pfeilschäfte. Renn sah ihm zu, wie er jeden Stock durch ein ausgehöhltes Stück Geweih zog. Ihr eigener Clan benutzte die gleiche Methode. Ab und zu schlug er mit einem Bund Brennnesseln auf seine andere behaarte Hand, um die Steifkrankheit zu vertreiben. Auch ältere Raben taten das.
Sie rückte näher an ihn heran. »Was haben die mit mir vor?«, fragte sie ihn leise.
Er sah sie finster an und beugte sich wieder über seine Pfeile.
Sie fragte ihn, ob er der Anführer des Clans sei.
Er schüttelte den Kopf und zeigte mit dem Pfeilschaft auf den Mann, der angeordnet hatte, dass man ihr Wasser gab.
»Bist du der Schamane?«
Wieder ein Kopfschütteln. »Ich mache die besten Bögen im ganzen Großen Wald«, brummte er.
»Nicht mit ihr sprechen«, warnte ihn der junge Mann mit der Axt und schlug sich sofort mit der Hand auf den Mund. »Sie hat mich dazu verleitet zu sprechen! Sie ist eine Spionin der Waldpferde!«
»Ich bin noch nie jemandem aus dem Clan der Waldpferde begegnet«, protestierte Renn.
»Wir hassen sie«, murmelte der junge Mann.
»Warum denn?«, fragte sie. »Ihr folgt doch alle dem Brauch.«
»Aber wir folgen ihm besser«, fuhr er sie an. »Sie benutzen einen Bogen, um das Feuer zu wecken. Wir benutzen Stöcke. Das ist der Beweis.«
»Nur wir folgen dem Wahren Weg «, sagte eine Frau mit Lehmschädel. »Deshalb tragen wir die Narben. Um uns dafür zu bestrafen, dass wir ihn jemals verlassen haben.«
»Alle anderen Clans sind schlecht«, erklärte der junge Mann, der Sand auf seinen Schleifstein streute.
Renn dachte, dass sie ihr vielleicht nichts tun würden, wenn sie sich lange mit ihr unterhielten. Deshalb fragte sie ihn nach dem Grund.
Er sah sie düster an. »Die Bergclans sind schlecht, weil sie das Feuer mithilfe von Steinen erwecken und den Feuergeist anbeten. Es gibt keinen Feuergeist, es gibt nur den Baumgeist! Die Eis- und Meerclans sind schlecht, weil sie in schrecklichen Gegenden wohnen, in denen es gar keine Bäume gibt, und weil sie falsches Feuer aus dem Fett von Fischen erwecken. Und ihr im Weiten Wald seid am schlimmsten, weil ihr den Weg kanntet, aber euch von ihm abgewandt habt.«
Eine Auerochsenfrau warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Sprich nicht mit ihr, sie ist böse. Sie hat mein Kind gestohlen!«
»Hab ich nicht«, erwiderte Renn.
»Nicht mehr sprechen!«, befahl der Anführer der Auerochsen.
Danach musste sie sich zwischen die Wurzeln der großen Kiefer hocken. Männer warfen ihr finstere Blicke zu. Ein Mädchen spuckte ihr ins Gesicht. Ihre Hand fuhr zu der Hühnerknochenpfeife, aber sie sah, dass der junge Mann sie beobachtete, und schob sie unter ihr Wams zurück.
Das Lager war wieder in Schweigen verfallen, nur ab und zu zuckten Hände und gestikulierten unverständliche Nachrichten. Renn dachte an das Rabenlager mit seinen zankenden Kindern und den Hunden, die sich um irgendwelche Reste balgten, und an Fin-Kedinn, der am Feuer Geschichten erzählte. Vor lauter Sehnsucht verkrampfte sich ihr Herz. Hilf mir, Fin-Kedinn. Was soll ich bloß tun?
Klar und deutlich erinnerte sie sich an einen frostigen Morgen vor vielen Wintern, an dem er sie mit in den Wald genommen hatte, um ihren neuen Bogen auszuprobieren. Sie hatte nicht gehen wollen. Ihr Fa war gerade gestorben und die anderen Kinder hänselten sie; sie wäre am liebsten in ihrem Schlafsack geblieben und nie wieder herausgekrochen.
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