Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)
zu, der leichthin die Achsel zuckte und sich wieder setzte. Erst jetzt fiel Torak die wellenförmige blaue Tätowierung auf seinem Arm auf: das Zeichen des Robbenclans. Fast hätte er vor Überraschung laut aufgeschrien.
Bale. Sein Verwandter.
Seit dem vergangenen Sommer hatte Bale ordentlich Muskeln zugelegt und im Schein des Feuers glänzten erste Bartstoppeln. Davon abgesehen hatte er sich nicht verändert. Sein Haar mit den eingeflochtenen Schalen und Heringsknochen war noch ebenso lang und hell wie früher und die blauen Augen blickten wachsam und klug wie eh und je. Diese blauen Augen, in denen sich das Glitzern der Sonnenstrahlen auf dem Meer widerzuspiegeln schienen.
Bei ihrem letzten Wiedersehen hatten sie davon gesprochen, gemeinsam auf die Jagd zu gehen, und Torak hatte über Robben gewitzelt, die sich im Wald durchschlagen müssen. Jetzt daran zu denken tat weh.
Plötzlich dröhnte in der Ferne ein Horn.
Tänzer und Zuschauer verstummten jäh.
Auf ihren Stock gelehnt, humpelte Saeunn in den Schein des Feuers. »Ein Seelenesser!«, kreischte sie. »Unter uns ist ein Seelenesser!«
Ein Schauer der Furcht überlief die Menge.
»Ich habe es in den Knochen gelesen«, krächzte die Rabenschamanin und ihr prüfender Blick wanderte über die Gesichter. »Ich habe es im Rauch gesehen. Ein Seelenesser ist unter uns – ein Seelenesser bis ins Mark.«
Alle zogen schützend ihre Kinder an sich und umklammerten Amulette und Waffen. Fin-Kedinns Gesicht war keine Regung anzusehen, während er beobachtete, wie seine Schamanin nach dem Bösen suchte.
Torak duckte sich tief ins Eibengebüsch, als ihm mit einem Mal die Bedeutung der Worte aufging. Ein Seelenesser bis ins Mark…
Er hatte das Zeichen zu lange auf der Brust getragen. Es war bis in seine Knochen vorgedrungen. Er war einer von ihnen. Er würde niemals frei sein.
Die Zeremonie hatte ihre Wirkung verfehlt.
Kapitel 10
Vom Langfeuer her ertönte ein wildes Durcheinander von Rufen. Hunde kläfften, Stimmen summten wie Hornissen. Lippen verzerrten sich vor Furcht und Augen wurden zu verschatteten Höhlen.
Fin-Kedinn rief zur Ruhe auf – und der Lärm ebbte ab.
»Aber wir müssen ihm nachsetzen!«, rief Aki. »Sonst …«
»Wenn du jetzt gehst«, sagte der Anführer der Raben, »läufst du ihm blindlings hinterher. Denk dran, dort draußen ist nicht nur ein Ausgestoßener. Was ist mit dem Eichenschamanen? Oder der Natternschamanin und der Adlereulenschamanin? Drei Seelenesser, die über ungeheure Macht verfügen. Sie könnten überall sein. Bist du wirklich stark genug, um es mit allen dreien aufzunehmen, Aki?«
Aki machte Anstalten, zu antworten, doch sein Vater fauchte ihn an, und der junge Mann zog den Kopf ein, als wolle er sich vor einem Schlag schützen.
Torak hatte genug gesehen. Er floh. Was war er doch für ein Narr gewesen, zu glauben, die anderen würden ihn wieder aufnehmen. Nie, niemals würde das geschehen.
Beim Laufen platzte die Wunde in seiner Brust erneut auf. Er stöhnte vor Schmerz. Ein Ruck, und du musst ihm folgen , zischte die Stimme der Natternschamanin.
Nachdem er seinen Schlafsack aus dem Gebüsch geholt hatte, schlug er einen anderen Weg ein, um von seiner Fährte abzulenken. Zwischen den Bäumen erblickte er die Hütten der Raben. Sie lagen verlassen da.
Obwohl die Gefahr mit jedem Augenblick wuchs, brachte er es noch nicht über sich, zu gehen. Er war dabei, seinen Clan für immer zu verlassen, soviel hatte er jetzt begriffen, aber er wollte seinen Leuten ein letztes Mal nahe sein. Er musste einfach von ihnen Abschied nehmen.
Bald hatte er die Hütte des Rabenältesten gefunden und spähte hinein. Am Eingang lehnte Fin-Kedinns Axt, sein Bogen und der Fischspeer standen daneben. Von Renn konnte Torak nichts entdecken, was ihm merkwürdig vorkam.
Fin-Kedinns Axt.
Sie war schön, mit ihrem Axtblatt aus poliertem Schiefer auf dem mächtigen Eschenstiel, und sie schmiegte sich in Toraks Hand, als sei sie für ihn gemacht. Während er die Finger um den Stiel legte, spürte er die Stärke und Willenskraft des Rabenführers in sich einströmen. Torak hatte seine eigene Axt im Hohen Norden verloren, Fin-Kedinn hatte ihm dabei helfen wollen, eine neue anzufertigen. Es gab so vieles, was Fin-Kedinn ihm hatte beibringen wollen.
Er umschloss den Axtstiel noch fester. Die Axt eines Mannes zu stehlen galt als eines der schlimmsten Verbrechen. Obendrein auch noch die Fin-Kedinns …
Aber er brauchte unbedingt eine
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