Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)
Aufregung im Kreis. Der Geruch sagte ihm, dass der wandernde Atem von Groß Schwanzlos aufgebrochen war, um die Rudelgefährtin zu finden. Wolf musste dasselbe tun.
Schnell wie der Wind rannte er durch den Wald, erschreckte eine Stute und ihre Fohlen und wäre beinahe auf ein schlafendes Ferkel getreten, war aber längst verschwunden, bis die verärgerte Mutter sich aufgerappelt hatte. Er schlängelte sich durch die Erlen am Flinken Nass, sprang dem Heulen der Rudelgefährtin entgegen. Er witterte ihre wilde Entschlossenheit. Er witterte frisches Blut und einen wütenden Elch.
Mitten im Jaulen riss die Stimme der Rudelgefährtin plötzlich ab.
Wolf rannte noch schneller.
Mit einem Mal drehte der Wind und trug ihm einen neuen Geruch zu: den Geruch der Andersheit.
Wolf blieb abrupt stehen. Die Andersheit bewegte sich auf den schutzlosen Körper von Groß Schwanzlos zu.
Wolf zögerte.
Was sollte er tun?
Kapitel 9
Torak kämpfte sich aus dem Schlaf. Es kam ihm vor, als versuchte er verzweifelt, vom Grund eines Sees an die Oberfläche zu gelangen. In jener Nacht war etwas geschehen, etwas Schreckliches, aber er konnte sich einfach nicht daran erinnern.
Er lag im Schlafsack. Die frühmorgendliche Sonne schien ihm in die Augen. Er hatte einen Geschmack im Mund, als hätte er Asche gegessen, und in seiner Brust pochte ein wütender Schmerz.
Sein Blick fiel auf die dunkelrote Haarsträhne in seiner Hand, und mit einem Mal überfiel ihn blitzartig die Erinnerung. Das Farnkraut peitschte gegen sein Geweih, unter den Hufen schmatzte Schlamm. Feuersteinfunken blitzten auf, rotes Haar wirbelte. Und dann – nichts mehr.
Was hatte er getan?
Blitzschnell sprang er aus dem Schlafsack und schreckte Wolf auf.
Die Rudelgefährtin!, sagte Torak in Wolfssprache. Geht es ihr gut?
Weiß nicht , war die Antwort. Ein nasser Wolfskuss. Und dir?
Torak vermochte es nicht zu sagen. Noch nie zuvor war seine Seele im Schlaf gewandert. An dem Reinigungstrunk, den er vor der Zeremonie zu sich genommen hatte, konnte es nicht liegen. Renn hatte ihm versichert, dass seine Seele dadurch nicht wandern würde. Außerdem hatte er alles genau so gemacht, wie sie gesagt hatte, und das Zeichen der Hand auf seine Wange getupft. Prüfend glitt er mit dem Finger über sein Gesicht, doch das Erdblut war verschwunden. Er musste es sich im Schlaf abgewischt haben.
Wie hatte das geschehen können? Er betrachtete die blutverkrustete Wunde auf seiner Brust. Das Zeichen war nicht mehr zu sehen, aber die Macht der Seelenesser war groß. Vielleicht hatten sie ihn im Schlaf zu dieser Tat gezwungen : den Menschen anzugreifen, den er am meisten liebte.
Es dauerte den ganzen Morgen, bis er die Lichtung erreichte. Er hatte eine vage Vorstellung, wo sich die Stelle befand; der Dachsbau und der Eichenstumpf waren ihm auf früheren Jagdzügen bereits aufgefallen. Außerdem half ihm Wolf. Als sie schließlich zu der Stelle gelangten, erkannte Torak sie nicht wieder. Farn und Weidenröschen waren niedergedrückt, als sei ein Wirbelsturm darüber hinweggefegt. Von der Eiche waren nur mehr Splitter zu sehen. Hier und dort zeichneten sich dunkelrote Spritzer auf den Blättern ab.
Vor seinen Augen drehte sich alles und in seinem Mund schmeckte es nach Erbrochenem. Er bemühte sich mit aller Kraft, ruhig zu bleiben und sich Stück für Stück zusammenzureimen, was hier vor sich gegangen war.
Im aufgewühlten Schlamm und in der Nähe des Stumpfes entdeckte er Spuren von Renns Stiefeln und an einem Eingang des Dachsbaus klebte ein rotes Haar. Viele verschiedene, einander überkreuzende Fußspuren, die auf dem Weg zurück zu den Booten tiefer in die Erde eingedrückt waren. Sie hatten etwas Schweres getragen.
Vielleicht waren sie noch rechtzeitig gekommen, hatten den Elch getötet und ihn in die Boote geschleppt.
Vielleicht hatten sie auch Renn getragen.
Torak konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Seine Fähigkeiten im Fährtenlesen waren ihm unversehens abhanden gekommen.
Das habe ich getan, dachte er. In mir ist etwas, das ich nicht beherrschen kann.
Wolf stieß ihm sanft die Schnauze gegen den Schenkel. Er wollte wissen, welche Richtung sie einschlagen würden. Torak fragte ihn, ob er versucht habe, der Rudelgefährtin beizustehen, und Wolf antwortete, das habe er versucht, bis er die »Andersheit« gewittert habe.
Was meinst du damit ? , fragte Torak, wurde jedoch aus der Antwort seines Gefährten nicht schlau. Wölfe verständigen sich durchaus nicht
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