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Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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setzte, wankte das Trittholz, neigte sich seitlich, und er rutschte ab. Das brackige Wasser des Sees schlug über seinem Kopf zusammen.
    Er sank tiefer und tiefer, packte nach den Schilfstängeln, dem Steg, irgendetwas, das ihn halten konnte. Aber seine Hände griffen ins Leere, er vermochte nicht mehr zu sagen, wo oben und unten war.
    Lautes Platschen. Ein Wirbel aus Luftblasen stieg auf, als Wolf sich mit einem Sprung hinter ihm ins Wasser stürzte. Verzweifelt schwamm Torak auf die zappelnden Pfoten zu – aber Wolf war plötzlich verschwunden.
    Wolf! , schrie er lautlos, doch von seinem Rudelgefährten war nichts mehr zu sehen.
    Panisch schwamm er mit hastigen Zügen durch das schlüpfrige Röhricht.
    Dann war das Schilf mit einem Mal verschwunden. Das Wasser wurde eiskalt und er schwamm über bodenloser Dunkelheit.

Kapitel 15

    Torak erwachte davon, dass etwas über sein Gesicht glitt.
    Schaudernd hob er mit einem Ruck den Kopf – und sah gerade noch, wie sich ein schuppiger Schwanz ins Unterholz schlängelte.
    Er lag auf einem aufgeschütteten Haufen fauliger Kiefernnadeln am Rand eines stillen Waldes. Ein Kiesstrand, schwarz wie Holzkohle, führte hinunter zum glitzernden Wasser des Sees.
    Wie war er bloß hierhergekommen? Er konnte sich an nichts erinnern.
    Ein strammer Ostwind pfiff über die Steine und Torak fröstelte. Seine Kleider waren schmutzig und feucht, in seinen Ohren summte es. Er hatte Hunger und sehnte sich nach Wolf, traute sich aber nicht zu heulen. Er war sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch ein Wolfsheulen zustande bringen würde.
    Der Nebel hatte sich verzogen, aber der fahle Dunst raubte den Sonnenstrahlen alle Wärme. Am südlichen Ende des Strandes standen die Schilfrohre wie Wächter. Unten am Ufer erstreckte sich die schier unendliche Wasserfläche des Sees, undurchdringlich und abweisend.
    Torak rappelte sich mühsam auf. Die Kiefernnadeln lagen in breiten, wellenförmigen Schichten am Ufer, als hätte eine mächtige Flutwoge sie an Land gespült. Mit einem unguten Gefühl bemerkte er, dass die Bäume sich ängstlich vom See wegbogen.
    Er rannte in den Wald.
    Kein einziger Vogel zwitscherte sein Lied, die Bäume schienen ihn missmutig zu beäugen. An einem Bach mit schlammigem Wasser kniete er nieder und trank in gierigen Zügen, und als er einige vertrocknete Preiselbeeren fand, die vom Herbst übrig geblieben waren, machte er sich hungrig darüber her. Im Schlamm entdeckte er Pfotenabdrücke und die Schleifspuren eines Schwanzes. Torak runzelte die Stirn. Obgleich er sicher war, dass er dieses Geschöpf kannte, wollte es ihm einfach nicht gelingen, sich daran zu erinnern. Das machte ihm Angst. Früher hatte er mühelos alle Fährten im Wald lesen können.
    Torak hatte keine Ahnung, wie er es schaffen sollte, zu überleben. Er besaß weder Schlafsack noch Bogen noch Nahrung. Lediglich eine Axt, ein Messer und einen halb leeren Medizin- sowie einen feuchten Zunderbeutel. Außerdem hatte er völlig vergessen, wie man jagte.
    Er stapfte bergauf und gelangte nach einer Weile an einen kleinen See, über den der Wind pfiff. Die Sonne stach ihm in die Augen und das Quaken der Frösche bereitete ihm Kopfschmerzen. Er wankte zurück ins Dickicht der Bäume, aber sie streckten ihm hinterhältig die Wurzeln in den Weg und zerkratzten sein Gesicht. Selbst der Wald hatte sich gegen ihn verschworen.
    Die Bäume lichteten sich, er stand erneut am Schilf. Richtung Norden gewandt, taumelte er am Waldrand entlang, bis er zu einer Stelle kam, wo das Schilf nicht breiter war als ein Bogenschuss.
    Hinter dem Röhricht ragte eine steile Felswand auf, die ihn auf eigenartige Weise anlockte. Ebereschen und Wacholder klammerten sich in den Felsspalten fest, Farnkraut und Orchideen zitterten leise in den Gischtwolken eines kleinen Wasserfalls. Über der Felswand schwangen sich Schwalben pfeilschnell durch die Luft und Raben zogen ihre Kreise. An beiden Seiten des Felsens sah Torak eingekerbte, grün ausgemalte Zeichnungen, die Fische, Elche, Menschen darstellten. Vermutlich entsprang das Wasser dem Heilquell der Otter. Wenn er doch dort hinkommen könnte!
    Die Schilfrohre schlugen unter bedrohlichem Klappern gegeneinander, warnten ihn davor, weiterzugehen.
    Als die Sonne allmählich unterging, führte ihn der Pfad weiter nach Süden, bis er schließlich am See landete und auf einem Bett dichter Kiefernnadeln über einen schwarzen Kiesstrand stapfte.
    Torak hielt inne. Diesen Strand kannte er.

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