Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
Vom Netzwerk:
mit zwei Augen aus Schneckengehäusen.
    Obwohl es Torak beim Anblick der schimmernden Punkte schwindelte, konnte er den Blick einfach nicht davon abwenden. Die Macht des seltsamen Kopfes durchdrang seinen Geist wie die lautlose Erschütterung, die dem Donnerschlag folgt.
    Wolf spürte es ebenfalls und legte die Ohren an. Selbst das Schilfrohr bog sich zurück, als fürchte es die Berührung.
    Torak fiel ein, dass er immer noch Renns Schwanenfußbeutel bei sich trug, in dem sich sein Medizinhorn und eine rote Haarsträhne befanden. Was würde Renn jetzt tun?
    Das Zeichen der Hand. Vielleicht würde es ihn schützen.
    Das Ocker im Horn war von der Feuchtigkeit so zäh und klebrig geworden, dass er darauf spucken musste, um es zu verflüssigen. Um nichts in der Welt hätte er dafür Wasser aus dem See benutzt. Er träufelte den roten Brei in seinen Handteller und malte sich das Zeichen auf die Wange. Als er dasselbe bei Wolf versuchte – allerdings auf der Stirn, damit er es nicht ablecken konnte –, brachte er lediglich ein ungeschicktes Geschmier zustande. Das Summen in seinem Schädel wurde zusehends unangenehmer. Jemand wollte nicht, dass er Erdblut benutzte.
    Mit angehaltenem Atem schlich er an dem Pfahl vorbei. Wolf folgte mit gesträubtem Nackenfell. Ein gereiztes Rascheln schüttelte die Schilfrohre und das Summen wurde immer lauter.
    Torak erreichte die nächste Biegung des Steges – und erblickte drei weitere Pfähle. Von dicken, knüppelförmigen Schilfrispen bewacht, starrten ihn die weißen Augen der grünen, mundlosen Lehmköpfe an.
    Etwas glitschte über seine Wange. Als er es mit einer fahrigen Handbewegung wegwischte, geriet der Steg in heftiges Schlingern. Zu spät bemerkte Torak, dass die Tritthölzer am Ende gelockert worden waren und im Wasser trieben. Er taumelte, richtete sich wieder auf – und stolperte beim Rückwärtsgehen gegen Wolf, der aufjaulte und beinahe ins Schilf gestürzt wäre.
    Zitternd blieben sie nebeneinander stehen, während das Schilf unheilvoll knarrte.
    »Was wollt ihr?«, rief Torak.
    Die unvermittelt eintretende Stille war noch unerträglicher. Er hätte nicht rufen dürfen.
    Vorsichtig machte er Anstalten, weiterzugehen – und keuchte entsetzt auf.
    Die Pfähle waren verschwunden.
    Auch das Röhricht sah mit einem Mal ganz anders aus. Die Kolben an den Pfosten, die eben noch dick und knüppelartig gewesen waren, sahen nun fedrig und dunkelrot aus.
    Erschauernd begriff Torak, was das zu bedeuten hatte. Nicht die Pfähle hatten sich bewegt, sondern der Steg. Während er damit beschäftigt gewesen war, das Gleichgewicht zu halten, hatte jemand die Tritthölzer neu angeordnet.
    Zum ersten Mal seit er den Steg betreten hatte, dachte er ans Umkehren. Zugleich wusste er jedoch genau, dass er nicht mehr umkehren konnte, und das jagte ihm noch mehr Angst ein. Seine Gedanken gehörten ihm nicht mehr. Der Nebel war in seinen Kopf gesickert. Hier, in diesem dunstverschleierten Zwischenreich, das weder Land noch See war, war er im Begriff, sich selbst zu verlieren.
    Wolf stupste ihn mit der Nase am Oberschenkel und winselte ängstlich. Torak blickte auf seinen Gefährten hinunter und runzelte verwirrt die Stirn. Wolf versuchte, ihm etwas zu sagen, aber er konnte ihn nicht verstehen. Er, Torak, der die Wolfssprache als kleines Kind gelernt hatte – konnte nichts verstehen .
    Er taumelte weiter, Wolf trottete hinter ihm her.
    Es dauerte nicht lange, bis sich der Steg gabelte. Beide Wege waren von einem Pfahl markiert. Der Pfahl auf dem nach links führenden Steg war ohne Kopf; auf dem anderen Pfahl stak ein grüner Lehmkopf, doch jemand hatte die Augen entfernt und nur blinde Höhlen zurückgelassen. Um die Braue ringelte sich die abgeworfene Haut einer Natter und ein winziges, verschrumpeltes Herz war mit einer Knochenahle daran festgespießt.
    Seshru, die Natternschamanin.
    Torak wischte sich den eiskalten Schweiß von der Stirn.
    Hinter sich nahm er eine blitzschnelle Bewegung wahr, die im Schilf verschwand. Dort, zwischen den Blattspreiten. Weiße Augen.
    »Wer ist da?«, sagte er.
    Die Augen blinzelten – und tauchten auf der anderen Seite des Steges auf: blauweiß, unruhig flackernd wie Flammen.
    »Wer ist da?«, wisperte Torak.
    Um ihn herum glühte eine Vielzahl von Augenpaaren und das Summen in seinem Kopf schwoll zu ohrenbetäubendem Kreischen an.
    Wimmernd rannte Torak auf den Steg, der am nächsten lag, den Steg mit der Natternhaut, doch als er den Fuß darauf

Weitere Kostenlose Bücher