Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)
Rudelgefährten, der an seiner Seite gejagt und ihn stets vor Gefahr bewahrt hatte. Und wie hatte er es ihm vergolten? Er hatte ihn mit einem brennenden Ast davongejagt! Er hatte die Raben an seine Stelle gesetzt!
Das Gefühl von Schuld war beinahe unerträglich. »Ich muss ihn finden!«, rief er. »Ich muss alles wieder in Ordnung bringen!«
Seitdem der Wahnsinn sich seiner bemächtigt hatte, war er nicht mehr im Wald gewesen. Jetzt fühlte sich ringsum alles unnatürlich dunkel und still an. Er fragte sich, ob der Wald ebenso wie Wolf böse auf ihn war, weil er ihn im Stich gelassen hatte.
Aber Bäume leben länger als Menschen und sind nicht so leicht zu verärgern. Der Wald hieß ihn willkommen. Er schenkte ihm saftige Erdbeeren, die die Schmerzen in seinem wunden Hals linderten, und als die Mücken immer lästiger wurden, sorgte der Wald für Schafgarbenblätter, mit denen er sich die Haut einreiben konnte. Zum Feuermachen hielt er Zunderpilze bereit und vor allem zeigte er ihm Wolfs Spur: ein Haar, das sich in Dornen verfangen hatte, abgeriebenes Moos an einem umgestürzten Baumstamm.
Die Spur führte bergan, vorbei an dem kleinen See, den er schon zuvor entdeckt hatte. Jetzt schimmerten darauf goldene Teichrosen in der Abendsonne.
Die Wölfe hatten ihren Lagerplatz gut gewählt: auf einem Hügel nicht weit westlich des kleinen Sees, beschützt von wachsamen Kiefern. Die Höhle der Jungen befand sich am Fuße eines roten Felsens, der fast so hoch wie Torak war. Der Boden rings um ihn herum war von vielen Füßen festgetreten und mit Knochensplittern übersät.
Aber es waren keine Wölfe da. Und auch keine Jungtiere, obwohl er jede Menge kleiner Pfotenabdrücke entdeckte. Dann erkannte er seinen Irrtum. Die Welpen mussten in der Höhle schlafen und das Rudel war unterwegs zum Jagen. Es würde vor Tagesanbruch nicht zurückkehren. Bis dahin hatte er eine lange Wartezeit vor sich.
Als er den schweren süßen Duft der Wölfe einatmete, überkamen ihn Sehnsucht und Reue. Wölfe hatten ihn gerettet, als er noch ein kleines Kind war; trotzdem hatte er sich tagelang vor ihnen gefürchtet, als wären sie raubgierige Ungeheuer.
Mit schockierender Plötzlichkeit tauchte ein großer Wolf hinter dem Felsbrocken auf. Seine Zähne waren gefletscht. Er kam langsam auf Torak zu.
Torak wagte kaum zu atmen und wich langsam zurück. Das Rudel hatte einen Wächter für die Jungen zurückgelassen. Daran hätte er denken sollen.
Der Wächter kam näher.
Torak wich seinem Blick aus und stieß ein leises, unterwürfiges Jaulen aus. Tut mir leid! Greif mich nicht an!
Der Wächter knurrte. Geh weg!
Langsam zog sich Torak auf die andere Seite des Teichrosensees zurück. Von einem Wolf bedroht zu werden! Er war noch weit von einer völligen Gesundung entfernt.
Während er wartete, senkte sich die kurze Sommernacht über den Wald. Frösche quakten im Schilf. Ein Otter tauchte auf, schaute ihn an und tauchte wieder unter. Nur noch die Rosenblätter schaukelten sanft auf der Wasseroberfläche.
Torak nickte ein.
Seine Träume waren von eigenartigem Jaulen durchdrungen, bis er mit einem Ruck erwachte. Ihm war heiß, sein Kopf fühlte sich dick und benommen an, und sein Hals tat so weh, dass er kaum schlucken konnte.
Die Nacht war ungewöhnlich still.
Viel zu still.
Leicht beunruhigt beschloss er, bei der Wolfshöhle nachzusehen, obwohl der Tag noch nicht angebrochen war und das Rudel noch nicht zurück sein würde.
Wie zuvor sah der Lagerplatz verlassen aus, doch diesmal dachte Torak an den Wächter der Jungen und näherte sich mit größter Vorsicht. Im Dämmerlicht machte er eine Birke aus, deren Rinde böse zerkratzt war. Zu hoch für einen Dachs, zu tief für einen Bären.
Er spürte ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern. Dieses Gefühl kannte er. Jeder, der im Wald lebte, kannte es. Es ist das Gefühl, beobachtet zu werden.
Torak zog sein Messer und bewegte sich so geräuschlos, wie es sein angestrengtes Atmen zuließ.
Dort lag etwas am Fuße des Felsbrockens.
Der Wächter. Seine Flanke war aufgerissen, seine Kehle zerbissen. Er hatte einen verzweifelten Kampf geliefert, um die Jungen zu retten.
Torak kniete nieder und legte eine Hand auf die weiße Pfote. »Geh in Frieden. Mögest du den Ersten Baum finden und für immer unter seinen Ästen jagen.«
Im Boden rings um den Kadaver fand er Spuren, runder als die eines Wolfes, die Ränder von Fell verwischt.
Ein Luchs.
Torak erhob sich und sah sich um.
Er
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