Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)
aufgewühlt. Renn sah so anders aus! Die kleinen Sommersprossen, wie Vogelfutter, saßen immer noch in ihren Mundwinkeln, aber der rote Streifen auf ihrer Clantätowierung ließ sie älter wirken, nicht mehr wie seine Freundin von früher. Es war ein deutliches Anzeichen dafür, dass das Leben der Clans auch ohne ihn weitergegangen war; dass sie ihn hinter sich gelassen hatten.
Außerdem war es ein Schock, sie in Bales Begleitung zu sehen. Wie sie so durch den Wald liefen, bemerkte er, wie selbstverständlich die beiden nebeneinander hergingen. Mit einem Anflug von Eifersucht sah er, wie Bale einen Ast für ihren Bogen zur Seite hielt. Der Bursche vom Robbenclan hatte seinen Platz eingenommen.
Nur Renn schien überhaupt nichts davon zu bemerken. Sie wollte alles wissen, was Seshru gesagt und getan hatte, als er bei ihr an der Quelle war, und sie lauschte ihm mit der gleichen angespannten Konzentration, die sie für die Jagd aufbrachte.
»Sie findet eine Möglichkeit, dich aufzuspüren«, sagte sie. »Wenn wir nur wüssten, was sie vorhat.«
Bale beobachtete, wie Rip sich auf einem Kiefernzweig niederließ. »Torak könnte seine Seele in einen Raben überwechseln lassen und es herausfinden.«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte Torak, »aber es geht nicht. Im Hohen Norden habe ich dem Wind versprochen, dass ich nie wieder fliegen werde.«
»Wie sie lachen würde, wenn sie das wüsste«, sagte Renn bitter.
Das Licht nahm bereits ab, als sie beim Seerosensee ankamen. Vom Lagerplatz her war alles ruhig.
Torak stieß zweimal ein kurzes Bellen aus. Ich bin hier!
Keine Antwort.
Er rannte in Richtung Lagerplatz davon.
Kein Wächter für die Welpen. Keine Welpen.
»Sie sind weg«, sagte er ungläubig. »Das Rudel ist weg.«
Renn stemmte die Hände in die Hüften und sah sich um. »Wo sollen sie die Jungen denn hingebracht haben?«
Torak überlegte kurz. »Wenn sie groß genug sind, nimmt das Rudel sie zu einem neuen Lagerplatz mit, wo sie das Jagen erlernen.« Er stieß den Atem aus. »Ja, so muss es sein.«
»Ist der weit weg?«, fragte Bale. Seine Stimme klang angespannt.
»Einen Tageslauf, vielleicht weiter.«
»Also … nicht mehr auf der Insel?«, fragte Renn.
»Genau«, antwortete Torak. »Aber Wolf kommt bestimmt zu mir zurück, oder wir finden einander, indem wir heulen –«
»Torak«, fiel ihm Bale ins Wort, »begreifst du denn nicht, was das bedeutet? Wenn die Wölfe die Insel verlassen haben, heißt das –«
»Allerdings«, sagte die Natternschamanin. »Kluges Kerlchen.«
Kapitel 31
Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Stein über der Höhle und lächelte ihr schiefes spöttisches Lächeln. »Die Wölfe sind alle verschwunden«, sagte sie zu Torak. »Ich habe sie weggeschickt.«
»Hör nicht auf sie«, sagte Renn.
»Warum denn nicht? Was kann ich ihm denn tun?«, fragte die Natternschamanin, den Blick unverwandt auf Torak geheftet. »Ihr seid drei gegen eine, außerdem habe ich keine Waffen.« Ihre Stimme war so weich wie das Wasser, das Felsen ausspült, und er hatte den Eindruck, sie redete zu ihm allein, als wären sie die Einzigen hier in der stickig warmen Abenddämmerung. »Keine Waffen«, murmelte sie. »Nicht einmal ein Messer.«
Torak spürte, wie sich zwischen seinen Schulterblättern Schweiß sammelte. Bale stand da wie gebannt und hatte die Axt in seiner Hand völlig vergessen. Renn hielt Pfeil und Bogen zwar fest gepackt, legte aber nicht damit an.
»Nicht einmal ein Messer«, wiederholte die Natternschamanin und lenkte seinen Blick wieder auf sich. Vor ihrer Brust hob und senkte sich der Medizinbeutel. Im Dämmerlicht blickten ihre Augen ebenso schwarz und starr wie die einer Schlange. »Du hast mich belogen«, sagte sie zu ihm. »Du hast mich hintergangen und bist davongelaufen. Ich hätte dich für mutiger gehalten.«
Torak schwankte. »Du kannst mich nicht zwingen, mit dir zu gehen«, gab er mit einiger Anstrengung zurück.
»Oh doch.« Sie berührte den Beutel. Du weißt, dass ich das kann. Ich habe deinen Stein, fest eingeschlossen in den Windungen der grünen tönernen Schlange. Du kannst mir nicht trotzen!
»Hör nicht auf sie«, knurrte Renn wieder.
»Das ist also Renn«, sagte Seshru, lehnte sich auf ihre Hände gestützt ein wenig zurück und musterte sie amüsiert. »Was bist du doch für eine tückische kleine Fähe! Du warst es, die ihm geholfen hat, sich mir zu widersetzen, stimmt’s? Du musst über ein gehöriges Talent für die
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