Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)
vor mir geheim gehalten«, sagte sie stockend. »Du hast mir nichts von der Tätowierung der Seelenesser gesagt. Aber ich bin darüber hinweggekommen. Ich konnte es verstehen.«
»Das war zwei Monde lang. Nicht zwei Sommer. Ich war dein Freund und du hast mich angelogen. Jeden Tag aufs Neue.«
»Du bist immer noch mein Freund!«, rief sie. »Und ich bin immer noch Renn! Immer noch der gleiche Mensch!«
Bale trat zwischen sie. »Torak. Sie wollte dir nicht wehtun.«
»Was weißt du denn schon?«, fuhr ihn Torak an. »Halt dich gefälligst raus! Das hat nichts mit dir zu tun!«
»Torak, bitte «, sagte Renn. »Ich weiß, ich hätte es dir sagen sollen …«
»Geh weg!« In seinem Gesicht arbeitete es. »Ich will dich nie wieder sehen! Geh … geh einfach weg!«
Sie drehte sich um und rannte davon.
»Komm zurück, Renn!«, rief Bale ihr nach. »Nein! Torak ! Geh du nicht auch noch! Renn! Wir müssen beisammen bleiben! Das ist doch genau, was sie will!«
Renn brach durch den Farn, ohne darauf zu achten, wohin sie rannte. Beim Laufen sah sie noch, dass die Natternschamanin nicht mehr auf dem Felsen saß. Sie hatte sie auseinandergetrieben, genau wie sie es vorausgesagt hatte – so einfach, als hätte sie nur mit den Fingern geschnippt.
Torak wollte nur noch allein sein. Er hörte Bale hinter sich durchs Unterholz krachen, aber der Robbenjunge konnte im fast dunklen Wald nicht mit ihm mithalten und blieb schon bald zurück.
Irgendwann kam Torak am Ufer an und musste stehen bleiben. Das Schilf stand tödlich still, wie ein Wald aus lauter Speeren. Er nahm es kaum wahr. Es war ein warmer, ruhiger Abend, der Schweiß rann ihm am Körper herab, dennoch zitterte er vor Kälte.
Bilder aus der Vergangenheit blitzten vor ihm auf. Renns schamanische Begabung. Ihr Widerwille, diese Begabung einzusetzen. Ihre Weigerung, ihm den Grund dafür zu nennen.
Sie und die Natternschamanin sahen sich sogar ähnlich! Die gleiche blasse Haut, die gleichen hohen Wangen. Wieso hatte er das nicht früher bemerkt?
Am schlimmsten traf ihn aber, dass sie es so lange vor ihm verborgen gehalten hatte. Dass sie zu einer solchen Täuschung fähig war. Es verwandelte sie in jemand anderen, jemanden, den er nicht kannte. Und das war das Schlimmste, denn es bedeutete, dass er sie verloren hatte. Er war wieder allein, genau wie damals, nachdem Fa getötet worden war.
Nein, dachte er, nicht allein. Du bist niemals allein, solange du Wolf hast.
Wolf belog ihn niemals. Wolf wusste überhaupt nicht, was eine Lüge ist.
Torak hob den Kopf und heulte. Komm zu mir, Rudelgefährte! Ich brauche dich! Ohne sich um die Natternschamanin zu kümmern, schloss er die Augen und legte all seinen Schmerz und seine Einsamkeit in sein Heulen.
Zuerst hörte er nichts. Dann, ganz schwach, ertönte ein Antwortgeheul.
Endlich! Torak glaubte jedenfalls, dass es Wolf war, aber eigentlich war es zu weit entfernt, um es mit Sicherheit zu sagen. Vielleicht hatte es überhaupt nichts mit ihm zu tun. Von allen verlassen, wanderte er am Strand entlang.
Viel später saß er am südlichsten Zipfel der Insel und blickte über den See. Er hatte keine Ahnung, wie es ihn hierher verschlagen hatte. Er wusste nur, dass er sehr, sehr müde war.
Weit im Süden machte er die Lichter des Otterlagers aus; nicht ganz so weit entfernt, im Westen, das Schimmern anderer Lagerfeuer. Beunruhigt fragte er sich, was das zu bedeuten hatte. Vielleicht jagten ihn die Clans. So oder so, es war ihm gleichgültig.
Vom See her schob sich ein Schatten auf ihn zu.
Torak brachte die Kraft, sich zu verstecken, nicht mehr auf. Mit der Axt in einer Hand erhob er sich.
Wer auch immer das war, er bewegte sich sehr geschickt, glitt geräuschlos wie ein Hecht auf ihn zu.
»Torak. Steig ein.« Bales Stimme erklang leise aus dem Dämmerlicht.
Torak rührte sich nicht.
»Komm schon, Torak! Die Natternschamanin kann überall sein! Und den vielen Lagerfeuern nach zu urteilen, ist dir die Hälfte der Clans auf den Fersen!«
Als sich Torak immer noch nicht bewegte, seufzte Bale. »Ich weiß, dass es schwer für dich ist, aber wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir fahren zum Nordufer, dorthin traut sich keiner, uns zu folgen. Dann suchen wir Renn.«
»Nein«, erwiderte Torak. »Mach, was du willst. Ich mache mich auf die Suche nach Wolf.«
»Wolf wird dich schon finden, aber Renn ist allein da draußen, und diese … Kreatur … könnte überall sein!«
»Ist mir egal.«
»Rede keinen Unsinn.
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