Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)
Richtung des gestohlenen Bootes. »Andererseits hast du den Schneid deiner Mutter.«
»Ich habe überhaupt nichts von dir!«, schrie Renn.
»Ach, wir wissen doch beide, dass das nicht stimmt. Du hast meine Gabe für die Schamanenkunst geerbt. Du warst gut, als du dem Seelenwanderer gegen mich beigestanden hast. Vielleicht sollte ich sogar stolz auf dich sein.«
Renns Brust zog sich vor Hass zusammen.
»Er gehört mir, Tochter«, sagte die Natternschamanin warnend. »Er ist mein Lohn für die langen Winter des Wartens.«
»Er gehört niemandem, nur sich selbst.«
»Stell dich nicht gegen mich. Es wäre tödlich, deine Macht gegen die meine einzusetzen.«
»Kann sein. Aber du bist nicht unbesiegbar. Saeunns Macht war schwächer als die deine, trotzdem hat sie einmal über dich triumphiert.« Das hatte gesessen. Renn sah, wie Seshrus Fäuste sich ballten.
»Aber nicht, was die Schamanenkunst angeht«, sagte Seshru fadenscheinig. »Sie ist nur eine gemeine Diebin. Sie hat dich mir gestohlen.«
»Sie hat mich gerettet«, gab Renn zurück. »Ich war ein kleines Kind und du wolltest mich opfern!«
»Hat sie dir das erzählt?« Seshru richtete sich auf, wie eine Schlange, die jeden Augenblick zuschlägt. »Warum hätte ich dich neun Monde lang in mir tragen sollen, nur um dich hinterher umzubringen? Nein, du warst für größere Dinge bestimmt.« Ihr Mund zuckte. »Du hast meine herrlichste Schöpfung sein sollen – du solltest mein Tokoroth werden!«
Renn hörte keine Frösche mehr und auch nicht die plätschernden Wellen am Strand.
»Ich hätte es schaffen können«, sagte die Natternschamanin. »Der Feueropal hätte den mächtigsten Dämon angezogen, einen Urgewaltigen höchstselbst, und den hätte ich in meinem neugeborenen Kind eingeschlossen! Mein Wesen, meine Schöpfung! Mit einer derartigen Macht hätten wir alles erreicht!«
Einen Augenblick lang starrte sie an Renn vorbei auf Visionen ihrer unmöglichen Herrlichkeit. Dann holte sie sich wieder zurück und musterte ihre Tochter mit verächtlichen Blicken. »Stattdessen hat dich dieses alte Weib ›gerettet‹. Und jetzt sitzt du da: schwach, machtlos, und fragst dich, ob du wohl den Mut dazu aufbringst, mich zu töten.«
»Jederzeit«, stieß Renn zwischen den Zähnen hervor. »Ich könnte dich auf der Stelle mit einem Pfeil durchbohren.«
Seshru lachte höhnisch auf. »Stoße niemals eine Drohung aus, die du nicht ausführen kannst, Tochter! Gegen mich bist du machtlos. Du kannst mich nicht bezwingen und du kannst mich nicht töten! Vergiss das nie!« Sie streckte den Arm in Richtung Boot aus und drehte das Handgelenk so, dass die Handfläche nach unten zeigte. Renn zuckte nach hinten, als hätte sie etwas getroffen. Beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren.
Als sie wieder zum Strand schaute, war die Natternschamanin verschwunden.
Der Gestank nach Natternzunge stach Wolf in die Nase, während er am Rande des Runden Nass entlangrannte. Aber die böse Schwanzlose war außerhalb seiner Reichweite auf den Felsen, also lief er weiter, immer dem Geruch der Rudelgefährtin nach.
Er kam an der Bucht vorbei, in der die Verborgenen Dinge aus dem Nass zogen. Er setzte mit großen Sprüngen durch einen Hain wachsamer Kiefern und auf der anderen Seite wieder hinaus. Beim Laufen nahm er eine ferne Witterung des Großen Weißen Kalt auf. Er spürte seine Ruhelosigkeit. Er hörte, wie sich der Donnerer im Oben regte.
Nach vielen Sprüngen fand er die Rudelgefährtin. Sie hockte am Rande des Nass, unweit einer schwimmenden Haut, die nach Natternzunge stank – was ihr, zu Wolfs Verwunderung, nichts auszumachen schien. Sie hielt den Kopf in den Vorderpfoten verborgen und zitterte und jaulte, so wie es die Schwanzlosen tun, wenn sie sehr, sehr traurig sind.
Vorsichtig tappte Wolf auf sie zu. Er setzte sich neben sie und leckte über ihre Knie.
Sie hob den Kopf und blinzelte. Dann sagte sie etwas Klägliches in der Sprache der Schwanzlosen, schlang ihm ihre Vorderpfoten um den Hals und vergrub ihr Gesicht in seinem Nackenfell. Wolf mochte das zwar nicht besonders gerne, ließ sie aber gewähren, weil er spürte, dass in ihr etwas zerbrach.
Schließlich wurde aus ihrem Jaulen ein Schniefen und dann ein Schlucken. Zu Wolfs Erleichterung ließ sie ihn wieder los. So saßen sie da, aneinandergelehnt, und blickten über das Nass. Diesmal, als Wolf ihr die Zehen leckte, schob sie ihn sanft weg, und er wusste, dass es ihr wieder besser ging.
Er hob die
Weitere Kostenlose Bücher