Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)
die kleine Vogelknochenpfeife zum Vorschein, die ihr Torak geschenkt hatte, und blies hinein. Wie erwartet kam kein Ton heraus, aber wenn Wolf noch am Leben war, würde er trotzdem etwas hören.
Nichts. Nicht mal ein Windhauch.
»Versuch’s noch mal«, bat Torak.
Renn unternahm noch einen Versuch. Noch einen. Und noch einen.
Immer noch nichts. Sie wich Toraks Blick aus.
Dann drang aus den Tiefen des Berges kaum hörbares Geheul.
Toraks Gesicht leuchtete auf. »Siehst du? Ich hab’s dir ja gesagt!«
Es war ein klagendes, zittriges Geheul. Sogar Renn merkte, wie jämmerlich es klang. Die Töne wurden immer höher, bis sie sich überschlugen …
Und schließlich verstummten.
Kapitel 16
»WOLF!«, rief Torak und wollte losstürzen.
Renn hielt ihn fest. »Nicht, Torak! Die hören dich!«
»Na und? Lass mich los!« Er stieß sie so heftig weg, dass sie hinfiel und auf dem Rücken landete.
Sie sahen einander erschrocken an und waren alle beide über Toraks Ausbruch erschüttert.
Torak bot Renn die Hand, aber sie stand allein auf. »Kapierst du das denn nicht?«, fauchte sie. »Wenn du da reingehst, läufst du ihnen direkt in die Arme!«
»Aber Wolf braucht mich!«
»Und wie willst du ihm helfen, wenn du umgebracht wirst?« Sie zog ihn noch weiter von dem Auge weg. »Ich sage doch, dass wir erst nachdenken müssen! Wolf ist da drin. So weit, so gut. Aber wenn wir einfach reinmarschieren, kann alles Mögliche passieren.«
»Du hast ihn doch heulen gehört. Wenn wir ihm nicht schleunigst zu Hilfe kommen, stirbt er womöglich.«
Renn wollte eben widersprechen – und hielt schreckensstarr inne.
Torak hatte es auch gehört. Stiefelsohlen knirschten auf dem Hang.
Wie auf Absprache duckten sich beide hinter den Schlitten.
Knirsch, knirsch, knirsch. Ganz gemächlich.
Torak zückte wortlos sein Messer, Renn zog die Handschuhe aus und griff nach Pfeil und Bogen.
Ein stämmiger Mann kam in Sicht. Er war in geflecktes Robbenfell gekleidet und trug einen grauen Lederbeutel über der Schulter. Den Kopf hielt er gesenkt und die Kapuze verbarg sein Gesicht. Auf den ersten Blick war er unbewaffnet.
Torak packte die Wut und er sah rot. Das war bestimmt einer von denen! Der Schuft hatte Wolf entführt.
Vor seinem geistigen Auge sah Torak Wolf in stolzer Haltung auf einem Felsen stehen, den Wald zu Füßen, das Fell golden von der Sonne überglänzt. Abermals hörte er ihn verzweifelt heulen: Hilf mir, Rudelgefährte!
Knirsch, knirsch, knirsch. Inzwischen war der Fremde fast auf gleicher Höhe mit ihnen. Er blieb stehen. Drehte sich um, als widerstrebte es ihm, weiterzugehen. Da verlor Torak die Beherrschung. In blindem Zorn sprang er auf und rammte dem Kerl den Kopf in den Magen, worauf der rücklings in den Schnee stürzte.
Der Fremde rang nach Luft, wälzte sich dann aber erstaunlich gewandt auf die Seite, trat Torak das Messer aus der Hand, packte ihn an der Kapuze und ruckte so kräftig daran, dass Torak die Luft wegblieb. Muskulöse Beine hielten Toraks Arme nieder, ein schweres Gewicht drückte ihm die Brust zusammen, eine spitze Feuersteinklinge saß ihm an der Gurgel.
»Das würde ich an deiner Stelle lieber bleiben lassen«, sagte Renn ruhig und trat vor. Ihr Pfeil zielte aufs Herz des Angreifers.
Der Druck auf Toraks Brust ließ nach. Der Fremde ließ Toraks Kapuze los und nahm das Messer weg.
»Bitte tu mir nichts!«, winselte er.
Den Pfeil immer noch schussbereit, gab Renn Toraks Messer mit der Stiefelspitze einen Schubs, sodass er es wieder an sich nehmen konnte, und befahl dem Fremden aufzustehen.
»Nein, nein!«, jammerte der und warf sich vor ihr auf die Erde. »Ich darf der Macht nicht ins Antlitz schauen!«
Torak und Renn wechselten einen verwunderten Blick.
Der Fremde kroch bäuchlings zu seinem Beutel, den er fallen lassen hatte. Zu Toraks Überraschung war es keineswegs ein Mann, sondern ein Junge ungefähr in seinem Alter, bloß doppelt so dick. Er trug die schwarze Nasentätowierung der Eisfüchse und sein rundes Gesicht glänzte vor Speck und Angstschweiß.
»Wo ist er?«, fuhr ihn Torak an. »Was habt ihr mit ihm gemacht?«
»Mit wem?«, quäkte der Junge. Sein Blick fiel auf Toraks Tätowierung und er machte ein argwöhnisches Gesicht. »Du bist keiner von uns. Wer bist du?«
»Was hast du hier zu suchen?«, fragte Renn unwirsch zurück. »Du bist kein Seelenesser.«
»Aber bald bin ich einer!«, erwiderte der Junge verblüffend selbstbewusst. »Das haben sie mir
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