Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
Toraks Zuversicht erstarb.
Er malte sich aus, wie Wolf heulend auf und ab lief und nicht begreifen konnte, weshalb ihn sein Rudelgefährte verlassen hatte. Es war unerträglich. Er hatte ihm noch nicht einmal antworten können, so verdutzt war er gewesen, und als er sich von seinem Staunen erholt hatte, war er schon viel zu weit entfernt gewesen, war Wolfs Geheul längst verhallt. Er machte sich schwere Vorwürfe, dass er das Gesetz des Meeres gebrochen hatte. In Renns Begleitung wäre ihm ein solcher Fehler niemals unterlaufen. Dann wären die Robben jetzt nicht so wütend auf ihn und er hätte längst mit Wolf Wiedersehen feiern können.
Ein Windstoß besprühte ihn mit salziger Gischt, sodass ihm die Augen und die aufgeschürfte Hüfte brannten. Er zuckte unwillkürlich zusammen und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren.
»Sitz gefälligst still!«, rief Detlan über die Schulter. »Wenn du reinfällst, zieh ich dich nicht wieder raus.«
»Hast du gehört, Waldjunge?«, rief Asrif aus dem anderen Boot.
»Kümmer dich um deinen eigenen Kram, Asrif«, gab Bale zurück. »Wir sind noch lange nicht da.«
Torak hielt sich mit tauben Händen fest. Wohin er sich auch wandte – weit und breit nur Wasser. Das Meer hatte alles andere verschluckt, den Wald, die Berge, die Raben, Wolf. Torak kam sich vor wie ein unbedeutendes Sandkorn im nassen Fell dieses riesigen, sich unaufhörlich wiegenden Lebewesens.
Wenn er über den Bootsrand schaute, verlor sich sein Blick in undurchdringlicher Finsternis. Wenn man ins Wasser fiel … wann kam man wohl auf dem Grund an? Oder stürzte man ins Bodenlose?
Ein Vogel flog vorbei. Erst hielt ihn Torak für eine Gans, doch er war ganz schwarz und flog so tief, dass seine Flügel beinahe die Wellen streiften.
Kurz darauf ruderten sie an einem Schwarm plumper Vögel vorbei, die sich auf dem Wasser treiben ließen und mit sonderbaren, ganz unvogelhaften Grunzlauten unterhielten. Sie hatten schwarze Schwänze, weiße Bäuche und leuchtend gelbrote, dreieckige Schnäbel.
Detlan folgte Toraks Blick. »Lunde«, sagte er kurz angebunden, »das sind Lunde. Gibt es die bei euch im Wald nicht?«
Torak schüttelte den Kopf. »Sind es Jäger oder Gejagte?«
»Beides. Aber wir jagen sie nicht. Lunde sind den Schamanen heilig.« Er machte eine Pause. Wie es schien, sprach er nur ungern weiter, aber es ließ ihm keine Ruhe, dass Torak rein gar nichts wusste. »Lunde sind nicht wie andere Vögel«, fuhr er schließlich fort. »Es sind die einzigen Geschöpfe, die sowohl fliegen als auch im Meer tauchen und sich obendrein in der Erde eingraben können. Deswegen sind sie auch heilig. Sie verkehren mit den Geistern.«
Asrif lenkte sein Boot neben ihres. »Wetten, so was habt ihr in eurem Wald nicht?«, sagte er herausfordernd.
Damit hatte er Recht, aber Torak gab sich keine Blöße, sondern bedachte den Kleineren nur mit einem feindseligen Blick.
Es wurde Abend. Immer noch stand die Sonne tief am Himmel. Mittsommer nahte, die Zeit der weißen Nächte, in denen die Sonne überhaupt nicht mehr schläft.
Torak hätte nur zu gern geschlafen. Seine Beine waren verkrampft. Er nickte ständig ein, um dann wieder hochzuschrecken.
Da hallte ferner Gesang über die Wellen.
Wie auf Befehl stellten alle drei Robben das Rudern ein.
Bale riss sich den Sonnenschutz ab und spähte über die Wellen, Asrif bleckte grimassierend die Zähne und Detlan murmelte etwas vor sich hin und griff nach dem Amulett auf seiner Brust.
Torak lehnte sich lauschend über den Bootsrand.
Ein ferner, trauriger Gesang. Die lang gezogenen, an- und abschwellenden Rufe ließen ihn erschauern. Ein hallendes, abgrundtiefes Ächzen, als stimmte das Meer selbst ein Klagelied an.
»Die Jäger«, raunte Detlan.
»Da!«, sagte Asrif leise und deutete nach Nordwesten.
Bale drehte sich um und nickte. »Sie jagen Heringe. Wir müssen Acht geben, dass wir sie nicht stören.«
Torak blinzelte in die Sonne. Erst sah er nichts Ungewöhnliches. Dann fiel ihm etwa zehn Schritt entfernt eine große, spiegelglatte Fläche auf, so glatt, wie Wasser wird, wenn ein Fluss über einen Stein strömt, der ganz dicht unter der Oberfläche liegt. »Was ist das?«, flüsterte er.
»Ein Schwarm Heringe«, sagte Detlan leise über die Schulter. »Sie verstecken sich im Tiefen, aber die Jäger treiben sie an die Oberfläche. Deswegen kommen auch die Möwen.«
Urplötzlich war die Luft voller aufgeregt krächzender Möwen. Aber so wie es Detlan
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