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Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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beachtliche Strecke zurückgelegt hatten, drehte sich Detlan wieder nach Torak um. »Jetzt hast du sie gesehen.«
    Torak schwieg, dann erwiderte er: »Die jagen ja im Rudel … wie Wölfe.«
    »Du kannst die Jäger nicht mit deinem Waldgetier vergleichen«, widersprach Detlan unwirsch. »Es sind die schnellsten Lebewesen im ganzen Meer und die klügsten und grausamsten obendrein.« Er schluckte. »Ein einzelner Jäger kann mit seinem Strudel das größte Boot in die Tiefe reißen. Mit einem Schlag seiner Schwanzflosse bricht er einem erwachsenen Mann das Rückgrat, als wär’s bloß ein kleiner Hering.«
    Torak warf vorsichtshalber einen Blick über die Schulter. »Machen sie denn manchmal Jagd auf Menschen?«
    »Nur wenn wir Jagd auf sie machen.«
    »Kommt das denn vor?«
    »Niemals! Die Jäger stehen unter dem Schutz der Meermutter!«, entrüstete sich Detlan. »Außerdem rächen sie sich unweigerlich, wenn jemand einem der ihren etwas antut.« Sein grobes Gesicht wurde nachdenklich. »Man erzählt sich, dass einst vor der Großen Flut ein Junge vom Kormoranclan einen jungen Jäger tötete. Es war ein Versehen, keine Absicht. Der Jäger hatte sich in einem Robbennetz verheddert, und der Junge hatte schon mit der Harpune zugestochen, als er seinen Irrtum erkannte.« Detlan schüttelte den Kopf. »Der Junge erschrak zu Tode und wagte sich nie mehr in ein Boot. Sein ganzes Leben verbrachte er bei den Frauen an Land. Doch viele Winter später, als er schon uralt war, überkam ihn ein solcher Drang, noch einmal aufs Meer hinauszufahren, dass er seinem Sohn befahl, ihn im Boot mitzunehmen.« Detlan befeuchtete sich die trockenen Lippen. »Die Jäger warteten schon. Die beiden waren nie mehr gesehen.«
    Torak ließ das Gehörte auf sich wirken. »Aber … aber er hatte das Jungtier doch nicht absichtlich getötet! Konnte er die anderen Jäger denn nicht irgendwie besänftigen?«
    Detlan schüttelte nur wieder den Kopf und beide schwiegen eine ganze Weile.
    Der Wind legte sich, und sie gerieten in eine Nebelbank, die Bale und Asrif ihrem Blick entzog. Detlan tauchte das Paddel geräuschlos ein.
    Sie kamen an einem kahlen Felsen vorbei, auf dessen Kuppe eine Möwe hockte.
    Detlan deutete mit dem Kinn darauf. »Das ist der Stein.«
    Irgendwo im Nebel hörte man Asrif kichern. »Dort oben sitzt du auch bald, Waldjunge.«
    Torak biss die Zähne zusammen, wild entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen, aber im Stillen wurde ihm ganz bang ums Herz. Der Felsen war kaum breiter als das Boot und ragte am höchsten Punkt kaum höher aus dem Wasser, als Torak groß war. Es bedurfte nur einer tüchtigen Welle und man wurde von der Kuppe gespült. Wie sollte man dort droben auch nur einen Tag überstehen, geschweige denn einen ganzen Mond?
    Weiter ging es durch den dichten Nebel. Die neuen Kleider klebten Torak feucht am Leib.
    Da tanzte vor ihnen etwas auf den Wellen.
    Torak kniff die Augen zusammen.
    Es war fort.
    Nein – da war es wieder, gleich neben dem Boot. Ein hundeähnlicher Kopf, ein grauer Hundekopf mit stumpfer Schnauze, dichtem Schnurrbart und großen, neugierigen Augen.
    Als Detlan das Geschöpf erblickte, ging ein Lächeln über sein Gesicht. »Bale! Asrif!«, rief er. »Die Hüterin ist da und will uns heimgeleiten!«
    Die Robbe drehte sich auf den Rücken, sodass man ihren hellen, gefleckten Bauch sah. Dann drehte sie sich wieder zurück, kratzte sich mit einer handähnlichen Schwimmflosse die Schnauze, schloss die Nüstern, tauchte unter und schwamm neben den Booten her.
    So sieht also eine Robbe aus, ging es Torak durch den Kopf. Das Tier besaß sowohl etwas eigenartig Plumpes, Unbeholfenes als auch Anmut und Schönheit.
    Die Clanhüterin wies ihnen den Weg, und der Nebel lichtete sich so unvermittelt, wie er aufgezogen war. Auf einmal waren die Boote in Sonnenlicht gebadet.
    »Da wären wir!« Detlan hob freudig lachend das Paddel, von dem glitzernde Tropfen fielen.
    Torak blieb schier die Luft weg. So eine Insel hatte er noch nie gesehen!
    Mitten im Meer ragten drei schroffe Felsen auf. Es gab überhaupt keinen Wald, nur Stein und Wasser. Die fast kahlen Felsen waren mit Seevögeln gesprenkelt und von den eisbedeckten Kuppen stürzten Wasserfälle herab. Nur unten an ihrem Fuß konnte Torak einen grünen Saum erkennen und davor eine große, geschwungene Bucht mit einem sandigen Ufer, das die untergehende Sonne rosa färbte.
    Dort stand auch eine Ansammlung geduckter grauer Hütten, von denen Rauch aufstieg.

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