Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
den Donnerfällen herrührte.
Warum hatte ihm Fa nie von der Weissagung erzählt? Wieso war er der Lauscher? Was bedeutete das alles?
Neben ihm schlief Wolf mit zuckenden Ohren. Renn beobachtete einen Käfer, der über das Feuerholz krabbelte.
Torak wusste jetzt, dass er ihr trauen konnte. Sie hatte viel aufs Spiel gesetzt, um ihm zu helfen, und ohne sie hätte er nicht fliehen können. Es war ein ungewohntes Gefühl, dass ihm jemand zur Seite stand. »Ich muss dir was sagen«, raunte er.
Renn nahm einen dünnen Zweig und half dem Käfer von einem Ast herunter.
»Bevor mein Vater starb«, sagte Torak, »musste ich ihm etwas schwören. Ich soll den Berg suchen… und wenn es mein Tod ist.« Er unterbrach sich. »Ich weiß nicht, warum er das von mir verlangt hat. Aber ich habe es ihm geschworen, und deshalb versuche ich, mein Versprechen einzulösen.«
Sie nickte, und er sah, dass sie ihm zum ersten Mal vorbehaltlos glaubte. »Ich muss dir auch was sagen«, erwiderte sie. »Es hat mit der Weissagung zu tun.« Stirnrunzelnd drehte sie den Zweig in den Fingern. »Wenn du … den Berg tatsächlich findest, kannst du den Geist nicht einfach um Hilfe bitten. Du musst ihm erst beweisen, dass du seiner Hilfe würdig bist. Das hat mir Saeunn gestern Abend erklärt. Sie sagte, als der verkrüppelte Wanderer den Bären erschuf, hat er unseren Pakt mit dem Weltgeist gebrochen und ihn erzürnt, weil er ein Wesen geschaffen hat, das grundlos tötet. Es wird nicht einfach sein, den Weltgeist jetzt zur Mithilfe zu bewegen.«
Torak schluckte schwer. »Was soll ich denn tun?«
Sie sah ihm offen in die Augen. »Du musst ihm die drei wichtigsten Bestandteile der Nanuak bringen.«
Torak blickte sie verständnislos an.
»Saeunn sagt, die Nanuak ist wie ein großer Fluss, der nirgends endet. Alle Lebewesen tragen etwas davon in sich, Jäger, Wild, Steine, Bäume. Manchmal nimmt ein Teil davon Gestalt an, wie zum Beispiel Gischt auf dem Fluss, und wird ungeheuer mächtig.« Sie stockte. »So etwas musst du finden. Wenn nicht, wird dir der Weltgeist nicht helfen und du kannst den Bären nie vernichten.«
Torak wagte kaum zu atmen. »Drei Bestandteile der Nanuak«, sagte er mit belegter Stimme. »Aber welche? Und wo soll ich sie suchen?«
»Das weiß niemand. Wir kennen nur dieses Rätsel.« Sie schloss die Augen und sagte es auf:
»Ertrunkene Augen im tiefsten Grund,
Es beißt uralter steinerner Mund,
Dunkelstes Licht ist der kälteste Fund.«
Ein leichter Wind kam auf. Die Stecheichen rieben sich tuschelnd aneinander.
»Was soll das denn bedeuten?«
Renn öffnete die Augen. »Das weiß niemand«, sagte sie wieder.
Torak legte den Kopf auf die angezogenen Knie. »Ich soll also einen Berg finden, den noch niemand gesehen hat, ein Rätsel lösen, das bislang noch niemand lösen konnte, und dann noch einen Bären töten, den niemand besiegen kann.«
Renn nickte bedächtig. »Du musst es versuchen.«
Torak schwieg eine Weile. Dann fragte er: »Warum hat dir Saeunn das alles erzählt? Warum ausgerechnet dir?«
»Ich hab sie nicht darum gebeten, sie hat es von sich aus getan. Sie will, dass ich Schamanin werde, wenn ich groß bin.«
»Willst du das denn nicht?«
»Nein! Aber vielleicht… vielleicht hängt das ja alles zusammen. Hätte mir Saeunn nichts erzählt, hätte ich es dir nicht weitererzählen können.«
Wieder herrschte Schweigen. Dann schälte sich Renn aus ihrem Schlafsack. »Ich stell unsere Tragen nach draußen, damit der Essensgeruch nicht womöglich den Bären anlockt.«
Als sie weg war, wälzte sich Torak auf die Seite und blickte versonnen ins feurige Herz der Glut. Ringsum knarrte der Wald im Schlaf und träumte tiefe grüne Träume. Torak stellte sich die ungezählten Baumseelen vor, die sich draußen im Dunkeln drängten und auf ihn warteten, auf ihn ganz allein, damit er sie von dem Bären erlöste.
Er dachte an die goldene Birke, die rote Eberesche und die leuchtend grünen Eichen. Er dachte an das im Überfluss vorhandene Wild, an die Seen und Flüsse voller Fische, an die vielen verschiedenen Arten von Holz und Rinde und Stein, die man sich einfach nehmen durfte, wenn man wusste, wo sie zu finden waren. Der Große Wald bot einem alles, was man sich wünschen konnte. Bis jetzt war ihm nie richtig bewusst geworden, wie sehr er ihn liebte.
Wenn niemand den Bären aufhielt, war das alles dahin.
Wolf sprang auf und entschwand auf einen seiner nächtlichen Streifzüge. Renn kehrte zurück, kroch
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