Chronik der Nähe
Mittagstisch und lassen sie ausländische Sätze nachsprechen und jubeln, wenn
sie den Akzent gut imitieren kann, und das kann sie, Imitieren ist ihre
Spezialität. »Wenn du meine Schülerin wärst«, sagt einer der Lehrer verlockend,
»dann wärest du Klassenbeste, dann könntest du gleich Abitur machen«, alle
lachen, und Mutter zwinkert ihr zu.
Dem Onkel Hermann bringt Annie einen Teller mit den Resten der Reste
in sein Zimmer, er richtet sich halb auf, schaut verächtlich auf das Essen und
fragt keuchend, »und, hast du denn schon einen Freund, junge Dame, es wird bald
Zeit.« »Man muss auf den Richtigen warten«, sagt Annie
tapfer, obwohl ihr von den Blicken des Onkels flau wird. Seitdem er nicht mehr
vors Haus geht, weil er sich in den zugeschütteten StraÃen verlaufen und
verletzen könnte, sind die Augen in seinem ausgetrockneten Gesicht gröÃer
geworden, sie quellen hervor, als brauchten sie mehr Platz, und saugen sich an
Annie fest, aber sie muss los zur Nachhilfe und lässt den Onkel Hermann in
seinen eigenen Augen schwimmen.
Nachhilfe zu geben ist nicht einfach. Man muss immer mehr wissen als
die Nachhilfeschüler. Annie hat zwar mehr gelesen als viele andere Kinder und
Kunstpostkarten an der Tapete, aber Latein und Französisch hat ihr niemand
richtig beigebracht. Der junge Lateinlehrer war irgendwann verschwunden, und
sie sollten stolz auf ihn sein, obwohl er nicht mehr da war. Der
Französischlehrer war steinalt, älter als der Onkel Hermann, und hatte die
Sprache aus Büchern gelernt. Dann bekam er eine Lungenentzündung, die nicht
mehr abheilte, und Französisch fiel für immer aus. Annie hat sich also
Lateinbücher und Französischgrammatiken ausgeliehen, aber es ist schwer, weil
sie die Formen und Vokabeln und Sätze, die sie am Abend gelernt hat, am
nächsten Morgen schon wieder halb vergessen hat und weil ständig die Fremden in
ihrem Zimmer herumsitzen und die Teller abschaben, wie soll sie da Latein
lernen. Ãberhaupt ist es schwer, die Sprachen zu lernen, ohne mit einem
Menschen zu sprechen. Natürlich ist Latein eine tote Sprache, das weià Annie,
sie kommt ihr sogar besonders tot vor, aber einen lebendigen Menschen fragen zu
können, was dieser Ablativus Absolutus ist, hätte nicht geschadet. Französisch
hat Annie nun wirklich noch nie richtig gehört, sie legt sich ungefähr zurecht,
wie das klingen könnte, was sie in der Grammatik liest, und bringt die
erdachten Klänge ihren Schülern bei, so gut es eben geht. Manchmal fragt sie
die Lehrer am Mittagstisch, aber die müssen immer so lachen, wenn sie Annie
Französisch sprechen hören, dass sie sich ihnen nur in äuÃersten Notfällen
anvertraut, auch wenn sie ihr Schälchen mit übrig gelassenem Nachtisch
zuschieben und sie freundschaftlich necken, »und wann geht es los nach Paris,
ma petite.« Da meldet sich die alte Dame zu Wort, die noch nicht fertig gekaut
hat, mit halb zusammengekniffenen Lippen, damit man das Gekaute nicht sieht,
ruft sie, »ah Paris, ich war dort, bevor das ganze Unglück losging, lâamour,
Sie wissen schon«, und sie holt tief Luft und beginnt eine wehmütige
Geschichte, der niemand mehr zuhört, weil Mutter die Teller abräumt und Annie
dringend die Französischlektion lernen muss, die sie gleich unterrichten wird,
und die Lehrer und Beamten ihr sowieso nicht zuhören. So redet sie leise
weiter, sie kann jetzt nicht aufhören, schlieÃlich ist sie in Paris gewesen,
damit hört man nicht einfach so auf.
Da seid ihr ja auch einfach hingefahren, du und deine
Verehrer, deine Liebhaber, einfach mal nach Paris, das weiter weg war als
heute, mit einem alten Auto, einer Arabella, einem Volkswagen. Du umringt von
Jungs, auf den Fotos blinzeln sie in die Sonne, vorne lange Locken, hinten im
Nacken schön ausrasiert. Frühstück in Paris, also los, alle rein, einer fährt,
dann der andere, durchfahren bis Paris und Croissants auf dem Montmartre, du
warst das einzige Mädel, weiche lange Haare, spitzbübischer Blick. Es sind
Geschichten, die du gern erzählst, die Geschichten von der seidenhaarigen,
umschwärmten Annie, viel lieber als die kaputten Kriegsgeschichten, nur auf
Nachfrage natürlich, weil du dich nicht aufdrängst mit deinen Geschichten, aber
lange bitten muss ich nicht, bis du die Fotos holst.
So viele Jungs, ich kann sie nicht unterscheiden,
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