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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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passt, was
sie besitzen, merkt Annie auf einmal, dass sie die Felder nicht mehr wird sehen
können, in denen der Klatschmohn blüht. Sie pflückt einen Strauß Mohnblumen und
legt ihn in den Handwagen, auf den Sack mit den Kleidern und die aus dem
Schutthaufen gerettete Truhe, aber Mutter lacht sie aus, »das hat doch keinen
Sinn, Mohnblumen kannst du nicht pflücken, die verwelken schon beim
Hinschauen.« »Das macht nichts«, sagt Annie trotzig und wirft den Strauß nicht
weg, er liegt den ganzen Weg in die Stadt auf dem Kleidersack und ist schon
nach den ersten Schritten müde, nach einigen Kilometern hoffnungslos verwelkt,
ein feuchter, müder Haufen roter Läppchen. In der Stadt ist er verschwunden,
Annie hat ihn nicht weggeworfen, er muss vom Stapel gerutscht sein, und sie
will zurückgehen, sofort zurückgehen und ihn suchen, er soll nicht vermatscht
am Wegrand vergammeln. »Können wir noch mal zurück«, fragt sie leise, aber
Mutter hört gar nicht hin, sie fragt sich zur neuen Wohnung durch, in der Stadt
kennt sie sich nicht mehr aus, weil überall Schutt und Müll in den Straßen
liegen, und ein welkes Mohnsträußchen ist das Letzte, worum sie sich jetzt
kümmern kann.
    In der neuen Wohnung, in der Annie gleich die Kunstpostkarten neben
das Bett pinnt, das sie nun mit Mutter teilt, muss schnell Geld verdient
werden. Annie gibt, weil sie klug genug ist, Nachhilfe. Mutter, die früher, als
die Küche noch Wände hatte und das Kindermädchen den ganzen Tag auf Annie
aufpasste, gut kochen konnte, wird ab jetzt für fremde Leute kochen.
Mittagstisch nennt sie ihre Idee, »wir machen einen Mittagstisch, die Leute
kommen, essen und zahlen.« Und wirklich kommen schon
nach einigen Tagen Fremde in die Wohnung, hungrige Lehrer, einige Beamte und
eine ältere Dame mit langen Fingernägeln, deren Küchen auch keine Wände mehr
haben und die eine vollwertige Mahlzeit brauchen, so wie Mutter es ihnen
verspricht. Annie fragt nie, woher die Leute kommen, sie stellt sich vor, dass
Mutter die Fremden auf der Straße angesprochen hat, alle, die hungrig aussehen:
»Wollen Sie mein Gast sein.« Die Fremden sind auch
Annies Gast, weil sie in ihrem Zimmer sitzen, das jeden Morgen rasch umgebaut
wird, vom Schlafzimmer zum Esszimmer, das Bett wird zusammengeklappt, ein paar
Vasen werden aufgestellt, damit es für die Fremden gemütlich ist, und Annie
muss Blumen pfücken, obwohl es in der Stadt keine Wiesen gibt, nur einen
vermatschten Stadtpark und Löwenzahn zwischen dem Schutt, Mohnblumen darf sie
nicht pflücken, die welken einfach zu schnell.
    Mutter kocht in der winzigen Kochnische große Töpfe voll mit
möglichst nahrhaftem Essen, das sie frühmorgens und spätabends, wenn Annie
schlafen soll, organisiert. Annie liegt wach, frühmorgens und spätabends, und
wartet auf Mutter, die manchmal mit gefüllten Körben kommt, manchmal mit
nichts, aber oft schläft sie auch ein, und Mutter ist noch nicht zurück.
    Langsam geht Annie in die Schule, der Weg ist nicht so weit wie
früher, dauert aber seine Zeit, weil sie um all die Schutthaufen herumlaufen
muss, die früher einmal die Häuser der Stadt waren. Die Schule ist die gleiche,
nur noch etwas löchriger; auch die Lehrer haben Risse bekommen. Und wenn Annie
zurückkommt, sitzen schon die Fremden am Tisch und plaudern, während Mutter mit
hochgesteckten Haaren, einem Geschirrtuch um die Hüften und einem heftigen
Lächeln im Gesicht das Essen austeilt und vor allem den Lehrern, manchmal auch
den Beamten besondere Leckerbissen nachlegt. Sie gefällt den Gästen, sie ist
unverwüstlich und macht alle satt, und das ist eine Menge.
    Annie sitzt nicht mit am Tisch, sondern schenkt Wasser nach, stellt
die Teller zusammen und wartet im Hintergrund, bis sie die Reste essen kann,
auf dem Bettrand, den Teller auf den Knien. Die Fremden, vor allem die Lehrer,
winken Annie zum Dessert gern an den Tisch, während die alte Dame noch mit
mahlenden Kaugeräuschen den Teller abschabt, bis er blank geputzt ist, und
fragen sie nach der Schule und ob sie wisse, wann Napoleon gestorben ist und
wer den Faust geschrieben hat.
    Natürlich weiß Annie die Antworten, sie ist ja nicht dumm und gibt
sogar schon Nachhilfe, obwohl sie kaum älter ist als die Schüler, manchmal
sogar jünger. Sie hat ein Talent für Fremdsprachen, das sagen auch die Lehrer
am

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