Chronik der Nähe
starrt in Mutters leeres Gesicht, bis Mutter plötzlich den Blick spürt
und den Mann wegschiebt, sich rasch aufrichtet und Annie überschwänglich
begrüÃt, »schon zurück, meine Kleine, wie war es denn, wir ruhen uns gerade
etwas aus.« Jetzt kann Annie sich auf einmal wieder bewegen, sie weicht zurück,
raus, vor die Wohnung, in den Hausflur, setzt sich auf eine Treppenstufe und
wartet, bis Mutter nach ihr schaut und der Lehrer, Beamte oder völlig Fremde
eilig grüÃend an ihr vorbei die Treppe hinuntereilt, mehr als einen Gruà gibt
es nicht, Napoleon und Goethe erst wieder zum Mittagstisch. Einmal hat Annie,
als sie reglos in der Tür stand, hinter der halb angelehnten Tür des hinteren
Zimmers das Gesicht des Onkels gesehen, genauso reglos wie ihres, aber die
Lippen halb offen, wie Mutters.
Eilig holt Mutter sie herein, »zeig, was du bekommen hast«, und sie
zerrt das Kleid aus der Tasche, ein abgelegtes Kleid der Apothekersgattin,
deren Sohn sich einmal in der Woche an Annies Bein presst und die nicht
ausgebombt ist. »Für dich«, sagt Annie und schiebt das braune Kostüm zu Mutter,
die sich gerade durch die Haare fährt und die Bluse straff über den Bauch
zieht, der wächst und wächst, obwohl Mutter nicht schwanger ist, natürlich
nicht, der Vater ist ja tot. Auch Mutters Arme schwellen an, ihre Oberschenkel
schwer und rund, am Essen kann es nicht liegen, eher an Mutters natürlicher
Ausdehnung. Sie braucht nun einfach mehr Platz, und so passt ihr das Kleid der
Apothekersgattin nicht, beim besten Willen nicht.
»Wir nähen das um für dich«, sagt sie zufrieden und misst Annie mit
den Augen ab, das kommt gut hin. Es ist aber Sommer, das Apothekerskleid ist
aus schwerem braunen Stoff und sieht aus wie eine
Gardine. Annie könnte ein weiÃes Musselinkleid tragen wie die Frauen auf den
Kunstpostkarten in den französischen Gärten, oder ein leuchtendes Blumenkleid,
der Sommer drauÃen nimmt der Stadt ihre Braun- und Grautöne, man muss nur lang
genug mischen. Annie sieht Mutter zu, wie sie schon die Stecknadeln holt, die
Nähmaschine wäre gut, schon für die Servietten hat Mutter die Nähmaschine, wenn
sie ganz ehrlich ist, fast mehr vermisst als ihren Mann, aber mit Hand geht es
auch, sie wird dem Kind die Gardine zurechtschneiden.
Wenn Annie abends neben Mutter im Bett liegt und die schweren, rund
gewordenen Arme und Beine neben sich spürt, rollt sie sich so weit wie möglich
an die Wand. Früher, noch vor zwei, drei Jahren, hätte sie sich nichts mehr
gewünscht als Mutter so nah wie möglich bei sich, sie wäre eingeschlafen wie
ein Welpe an der Zitze. Wenn das Haus früher zerbombt worden wäre, hätten sie
früher in der Baracke gewohnt und wären früher in die Wohnung gezogen und
hätten früher ein Bett geteilt. Manchmal tut es Annie leid, dass Mutter zu spät
dran ist. Sie liegt ganz still und spürt, wie Mutter schwitzt und sich juckt
und im Schlaf zuckt. Wenn Mutter im Bett über den Lehrer, Beamten oder völlig
Fremden sprechen will, den Annie nur von hinten in ihren Armen gesehen hat,
atmet Annie laut und regelmäÃig durch die Nase ein und aus, dann hört Mutter
schon irgendwann auf, in die Stille hineinzuflüstern.
â Man muss sich nicht schmücken, keine Zeit, sagst du, was
für ein Aufwand, für wen denn.
Auch die Distel schmückt sich nicht und blüht doch.
â Für die Männer schon gar nicht, ich habe ja einen, den
Allerbesten. Und du brauchst das auch nicht, so eine schöne Haut, wie eine
Aprikose. Das verdirbst du dir, wenn du was draufschmierst.
So halte ich mich fern von dem Zeug, dem Schmuck, den Töpfchen und
Tiegeln. Vielleicht mal die Lippen anmalen, ein bisschen Kajal um die Augen,
aber weil ich es nicht gelernt habe, sieht es übertrieben
aus. Fast schon unanständig, denkst auch du, ich sehe das an deinem Blick.
Das habe ich am allerbesten gelernt: deinen Blick zu lesen. Du
brauchst gar nichts zu sagen, ich weià ganz genau, was du denkst. Ein
abfälliges Zucken der Augenränder, ein gehuschtes Stirnrunzeln, eine Härte um
die Pupille: Das genügt schon, du musst nichts sagen, sag es nicht. Deswegen
musst du schon die Augen aufmachen, sonst kann ich nichts lesen.
Grün steht dir gar nicht, hast du immer gesagt. Sieht aus wie ein
Förster, halali und halalo. Oder ein Soldat, viel zu
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