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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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hattest.
    â€“ Und was habt ihr dann gemacht.
    â€“ Dreimal darfst du raten.
    Du lachst, mit einem bist du nach Griechenland, mit dem anderen nach
Frankreich. In einer Zeit, in der das nicht so einfach ging, vor den
Blumenkindern, lang vor den Liebessommern, Vermieterinnen spähten aus dem
Fenster, wer da kam, gut aufgepasst, was die Mädchen machen und ob es Ringe
gibt und ob das Verehrer sind oder gar Liebhaber. Und alle nackt ins Wasser, so
wie ihr das gemacht habt in Griechenland, Sonnenbrand auf den Arschbacken, na,
das ging gar nicht, strengstens verboten, du hast dich aber getraut.
    Doch als der schmale Liebhaber nachts vom Gästezimmer zu mir
hinüberpirschte und unter meine Decke schlüpfte und den Arm um mich schlingen
wollte, da drehte ich mich zur Seite und stellte mich schlafend. Das: Das geht
hier einfach nicht.
    Annie ist von Männern umringt, im hinteren Zimmer der
Onkel, im Mohnfeld der umgefallene Vater, mittags der ganze Tisch voll mit
Männern, die kauen, reden, rauchen und sich die Lippen mit den frischen
Stoffservietten abtupfen, die Mutter für den Mittagstisch aus dem
Leinentischtuch genäht hat, das sie aus den Trümmern gezogen hat, dreckig und
zerrissen natürlich, das musste man waschen, immer wieder waschen, bleichen, in
Quadrate schneiden, säumen, bügeln, Servietten sind so wichtig wie die Bilder
an den Wänden und die Blumen auf dem Tisch, etwas Farbe, und wenn es nur
Blütenweiß für die Lippen ist. Die Lippen des Onkels sind oft bläulich und
geschwollen, die Lehrerlippen feucht und satt, leuchtend in einem
unwahrscheinlichen Rot, als hätten sich die Lehrer die Lippen angemalt. Annie
würde sich auch gern die Lippen anmalen, sie hat blasse, dünne Lippen, die
sicher mit etwas Rot viel blühender aussähen, aber Mutter würde sich darüber lustig
machen, und außerdem möchte sie nicht aussehen wie die Lehrer mit ihren roten
Wülsten im Gesicht.
    Inzwischen ist sie richtig gut in Latein und noch besser in
Französisch, und dass sie keine Zeit hat zu spielen, macht nichts, denn die
anderen Kinder haben auch keine Zeit. Sie sitzt bei ihren Schülern und übt und
wundert sich, warum andere Menschen so wenig Geduld haben. Die Schüler sind
nicht auf den Kopf gefallen, aber sie krickeln einen Satz aufs Papier, und wenn
ihnen das unregelmäßige Verb nicht einfällt, nehmen sie eben das regelmäßige,
»warte«, muss Annie rufen, »überleg doch mal«, dann runzeln sie die Stirn und
schütteln fassungslos die Köpfe, nur weil sie zu ungeduldig sind. Annie bringt
ihnen zwar auch etwas Grammatik bei, aber vor allem Geduld, die Grammatik der
Geduld bringt sie ihnen bei, und wie man es ausspricht, ist egal, in der Schule
wird nicht gesprochen.
    Manchmal pressen die Schüler ihre Beine oder Knie an Annies Bein.
Einer, der besonders schlecht in Latein ist, nähert mitten im Vokabelabfragen
sein Gesicht verdächtig langsam ihren Lippen, und sie weicht so heftig zurück,
als hätte er eine ansteckende Krankheit.
    Gelegentlich kommen die Mütter der Schüler mit einem Glas Milch oder
Kaffee ins Zimmer, sie wollen nicht stören und auch nicht unterbrechen, nur
sehen, ob alles gut läuft, der Schüler lernt, alles seine Ordnung hat und der
Lohn sich lohnt. Der Lohn wird Annie nach der Stunde in Beuteln oder Papier
eingeschlagen überreicht, Brot, Obst, manchmal etwas zum Anziehen. Annie
bedankt sich, natürlich muss sie sich bedanken, obwohl der Lohn hart erarbeitet
ist, vor allem die Geduld und das Beinpressen und die Lippengefahr erschöpfen
Annie sehr, aber man bedankt sich, wenn man etwas bekommt, und wenn es Kleider
sind, wird Annie sie tragen und froh darüber sein müssen.
    Mutter kann nicht ganz ohne die Männer. Wenn Annie zu einer
unvorhergesehenen Zeit nach Hause kommt, kann es passieren, dass einer der
Lehrer oder ein Beamter oder manchmal sogar ein völlig Fremder mit Mutter in
der Zimmerecke steht oder auf dem Bett lagert, immer so, dass sein Rücken Annie
zugewandt ist und Annie, wenn sie in der Tür steht, in die weit aufgerissenen,
leeren Augen der Mutter starrt, die Annie nicht sehen. Ihre Lippen muss sie
angemalt haben, so rot sind sie sonst nie, ihr Mund steht halb offen, der
Lehrer oder Beamte oder völlig Fremde drängt sich an sie, und Annie kann keinen
Schritt weitergehen, aber auch nicht umdrehen. Sie steht da und hält die Luft
an und

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