Chronik der Silberelfen Bd. 1 - Zeit der Rebellen
starrte auf meinen Vater, als würde sie ihm am liebsten mit den Zähnen die Kleider vom Leib reißen. Griogair rutschte unbehaglich auf seinem Sessel hin und her und ich musste grinsen.
Genau wie Lilith.
Auch Kate schien sich zu amüsieren, aber dann strich sie sich mit einer Hand seufzend die Haare aus der Stirn und kam wieder zum Geschäftlichen. „Also, Leonora. Du weißt ja, dass sich die Lebenszeit des Schleiers ihrem Ende entgegenneigt, nicht wahr?“
Ich hielt den Atem an. Sprach sie von dem Schleier? Dem Sgath ? Von der starken Membran, die unsere Welt von der okkulten, gefährlichen Anderwelt trennte? Dem einzigen Schutzschild, der zwischen uns und den verhassten Kreaturen auf der anderen Seite stand?
Und plötzlich wusste ich, was mich geweckt hatte: eine Bewegung des Schleiers. Ich hatte sie so deutlich gespürt wie die Krallen einer Katze am Rücken: einen scharfen Ruck, als hätte jemand am Schleier gezerrt, um seine Festigkeit zu prüfen. So etwas hatte ich vorher noch nie gespürt. Wer sollte sich denn auch an dem Schleier zu schaffen machen? Und trotzdem wusste ich sofort, dass es genau so gewesen sein musste.
Schließlich war der Schleier etwas, was ich spüren und berühren konnte. Ich konnte damit spielen, den Stoff zwischen den Fingerspitzen fühlen, ihn zupfen, streicheln, in der Faust halten. Das war alles. Es schien auch keinen besonderen Grund dafür zu geben, dass ich diese besondere Gabe besaß. Der Schleier war einfach etwas nicht ganz Fassbares, was ich dennoch jeden Tag anfasste. Als Kind war ich davon ausgegangen, dass das jeder konnte. Erst im Alter von zehn Jahren oder noch später hatte ich herausgefunden, dass dies nicht der Fall war. Ich war der Einzige; niemand außer mir konnte den Schleier so spüren wie ich. Abgesehen von Leonora vielleicht, aber die war ja, wie meine Mutter, eine Hexe.
Und dieser Gedanke brachte mir schließlich die Erkenntnis: Ich verfügte selbst über Zauberkraft! Nur Hexen und Zauberer konnten den Schleier berühren. Und wo wären wir heute ohne all jene, die den Schleier überhaupt erst gewebt hatten? Ja, ich schätzte Zauberer sehr, das taten wir alle, aber wer wollte schon gern selbst einer sein? Ich jedenfalls nicht.
Also versuchte ich, den Schleier nicht mehr zu spüren. Und ich behielt für mich, dass ich es konnte. Es ging niemanden etwas an.
Es war ja nicht so, dass ich den Schleier hätte zur Seite reißen können, um die Anderwelt zu sehen. Ich konnte ihn weder aufschlitzen noch flicken, das konnte niemand. Ich konnte ihn nur spüren. Und ganz sicher konnte ich ihm nichts anhaben. Der Schleier war nichts Lebendiges. Er war einfach, und er würde immer sein. Ohne ihn war jegliches Leben undenkbar.
Aber nun stand Kate da und verkündete, der Schleier sei etwas Vergängliche s – und Conal schien der Einzige zu sein, den diese Tatsache überraschte und entsetzte. Unfassbar.
„Tatsächlich, er löst sich auf? Ich hatte ja keine Ahnung, Kate.“ Leonoras Stimme triefte regelrecht vor Sarkasmus. „Und worauf willst du nun hinaus?“
Conal ergriff mit zitternder Stimme das Wort: „Was meinst du damit, Kate, die Lebenszeit des Schleiers neige sich ihrem Ende entgegen?“
Leonora wischte seinen Einwurf mit einer Handbewegung beiseite. „Er wird noch jahrhundertelang bestehen, mein Lieber. Mach dir keine Sorgen.“
„Jahrhunderte?“, wiederholte Conal und wandte sich mit schreckgeweiteten Augen an Griogair. „Ein paar Jahrhunderte sind doch gar nichts!“
„Natürlich nicht“, sagte seine Mutter ärgerlich.
Griogair musterte seinen Sohn eindringlich, vielleicht auch, damit sein Blick nicht zu Lilith abwandern konnte. „Deine Mutter wird einen Weg finden, den Schleier wieder zu verfestigen, Cù Chaorach. Alles andere ist unvorstellbar.“
„Unvorstellbar? Der Tod einer ganzen Welt? So kann man es freilich auch sehen, Athair .“ Conal schaute zwischen seinen Eltern hin und her. „Vielleicht sollten wir aber mal anfangen, uns das Unvorstellbare vorzustellen.“
„Wie dein Vater schon sagte, mein Lieber, das tue ich bereits.“
Wahrscheinlich schmerzte es mich noch mehr als Conal selbst, dass seine Mutter ihn wie ein kleines Kind behandelte.
„Außerdem gibt es auch eine dritte Möglichkeit“, warf Kate ruhig ein.
Griogair sah sie misstrauisch an.
„Und die wäre?“, hakte Leonora nach.
Kate machte eine bedeutungsschwangere Pause und schenkte den beiden ein Lächeln.
„Wir könnten uns des Schleiers
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