Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
jetzt, dass sie doch nicht weinte. Aber ihr Gesicht war so starr, dass der Anblick ihn beinahe noch mehr schmerzte. Er folgte ihrem Blick zu dem lebensgroßen Gemälde, das über dem Puppenhaus an der Wand hing. Es war von der Hand eines wirklich begnadeten Künstlers ausgeführt, kostbar gerahmt und zeigte eine vielköpfige Familie, vermutlich die Corinnas.
»Wenn ich ehrlich bin, dann tue ich es auch heute noch manchmal. Es ist … wie eine kleine Welt, die ganz allein mir gehört.«
Genau genommen war es auch ihre Welt, dachte Andrej. Es handelte sich um eine nahezu perfekte Kopie des Palazzo bis hin zu jedem einzelnen Möbelstück – zumindest von den Räumen, die er kannte: die Anlegestelle, die riesige Eingangshalle, die Treppe und das Zimmer, in dem sie sich gerade befanden. Als er sich vorbeugte und genauer hinsah, entdeckte er sogar ein winzig kleines Exemplars des Puppenhauses, vor dem sie gerade standen.
»Das ist eine fantastische Arbeit«, lobte er.
»Er hat fast zwei Jahre daran gearbeitet«, antwortete Corinna mit leiserer und jetzt weicher Stimme. »Ich habe ihn die ganze Zeit aufgezogen und immer behauptet, er würde niemals damit fertig werden oder es wäre so hässlich, dass er sich nicht traut, es jemandem zu zeigen. Er hat es die ganze Zeit über versteckt, weißt du? Das Zimmer, in dem er gearbeitet hat, war immer verschlossen. Niemand durfte es betreten, keiner der Diener, ich nicht, noch nicht einmal mein Vater. Aber eines Tages war es fertig, und alle waren furchtbar stolz. Mein Vater am allermeisten. Wir haben manchmal tagelang nichts anderes getan, als damit zu spielen.« Sie streckte nun doch die Hand aus und nahm zwei winzige Püppchen heraus, die vermutlich sie und ihren Bruder darstellten. Ihre Finger zitterten.
»Ist das dein Bruder?« Andrej deutete auf das Porträt, das zwar perfekt, aber auch einfallslos ausgeführt war: Ein ernst dreinblickender Mann fortgeschrittenen Alters, der in der Pose eines Generals auf einem gepolsterten Stuhl saß und sich redliche Mühe gab, jeden niederzustarren, der in seine lebensecht in Öl gemalten Augen blickte; seine deutlich jüngere Frau, aufrecht hinter ihm stehend, und die beiden Kinder in der Pose spielender Hündchen zu seinen Füßen. Als das Bild gemalt worden war, konnte sie höchstens fünf Jahre alt gewesen sein, aber Andrej erkannte Corinna dennoch zweifelsfrei wieder.
»Dein Bruder sieht dir sehr ähnlich«, sagte er.
»Wir waren Zwillinge«, antwortete Corinna. »Wir waren uns immer sehr ähnlich. Manchmal haben wir uns einen Spaß daraus gemacht, die Kleider zu tauschen, und die Diener haben die meiste Zeit nicht einmal gewusst, wer von uns nun wer ist. Ich glaube, manchmal hatte selbst meine Mutter Mühe, es zu erkennen.«
»Waren?«, fragte Andrej.
»Ich war die Ältere«, fuhr Corinna fort. »Nur ein paar Minuten, aber ich habe ihn immer damit aufgezogen, dass er ja nur mein kleiner Bruder ist. Er ist immer fuchsteufelswild geworden, wenn ich die große Schwester herausgekehrt habe.«
»Was ist passiert?«, fragte Andrej.
»Sie haben ihn erschlagen«, sagte Corinna. »Mein Vater und ich waren bei Dottore Scalsi an dem Tag, an dem deine drei schwarzen Freundinnen und dein Sohn dort angekommen sind.«
»Meruhe?« Andrej wollte nicht glauben, was er hörte. »Aber das ist doch Unsinn!«
»Seit meine Mutter gestorben ist, war kein Rock mehr vor meinem Vater sicher«, fuhr Corinna fort, als hätte er gar nichts gesagt. »Er hat deine Freundin gesehen und ihre beiden Begleiterinnen auch. Sie war sehr schön. Ihr rotes Haar und dieses schwarze Gesicht … ich glaube, kein Mann hätte ihr widerstehen können.« Sie drehte langsam den Kopf, um zu ihm hochzusehen. »Sie ist … eine von euch, habe ich recht?«
»Sie ist wie ich«, bestätigte Andrej. Und mehr. Unendlich viel mehr.
»Mein Vater hat ihr sofort Avancen gemacht, doch sie hat ihn abgewiesen. Jedenfalls hat er das behauptet. Aber am nächsten Morgen war mein Bruder ganz aufgeregt und machte Andeutungen.«
»Was für Andeutungen?«
»Andeutungen eben.« Corinna sah wieder das Bild an, und nun glitzerten doch Tränen in ihren Augen. Aber ihr Gesicht blieb vollkommen unbewegt, und ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Was Jungen in diesem Alter eben reden, wenn sie sich interessant machen wollen. Jedenfalls habe ich das gedacht. Dass es der wichtigste Abend seines Lebens wird und dass er an diesem Tag zum Mann werden würde. Ich dachte, er wollte sich nur
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