Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
interessant machen, und habe ihn noch damit aufgezogen.«
»Aber so war es nicht.«
»Nein«, antwortete Corinna. »Am Abend sind Vater und er weggegangen, aber sie sind nicht zurückgekommen.«
»Und?«, fragte Andrej, als sie nicht weitersprach.
»Meinen Bruder haben sie drei Tage später gefunden«, antwortete sie. »Drüben auf San Michele.«
»Der Friedhofsinsel?« Andrej war alarmiert.
»In einem Armengrab. Sie hätten ihn nie gefunden, wäre der Totengräber nicht zu faul gewesen, ein Grab auszuheben. Er hatte einen Toten zu begraben, für den niemand bezahlte –«
»Und da hat er beschlossen, ihn in ein gerade ausgehobenes Grab zu legen, und dabei festgestellt, dass vor ihm schon ein anderer auf dieselbe Idee gekommen ist«, sagte Andrej.
Wenn Corinna sich wunderte, woher er das wusste, dann ließ sie es sich nicht anmerken. »Sie haben ihn verscharrt wie einen toten Hund«, sagte sie. »Ich habe ihn kaum erkannt. Sie … sie müssen ihn gefoltert haben. Sein Gesicht …«
Ihre Stimme versagte. Auch Andrej musste sich überwinden weiterzusprechen. Aber er musste ihr die Frage stellen. »Er hatte keine Augen mehr?«
Corinna nickte, wieder ohne Erstaunen zu zeigen, den Blick fest auf das Gemälde gerichtet. »Ich will es nicht«, sagte sie, »aber ich muss mir immer verstellen, wie er gestorben ist. Du träumst von deinem Sohn, Andrej, aber ich träume von meinem Bruder. Manchmal höre ich seine Schreie.«
»Und dein Vater?«, fragte Andrej.
Corinna legte die beiden Puppen in den nachgebauten Palazzo zurück. »Ich bringe dich zu ihm«, sagte sie. »Zieh dir etwas an!«
Sie ging zum Bett, begann ihre Kleider einzusammeln, die in wilder Unordnung darum und darauf verstreut waren, so wie er sie ihr vom Leib gerissen hatte, und kleidete sich an. Andrej rührte sich nicht; er starrte sie nur an. Seine Augen brannten. Es dauerte lange, bis er die Kraft fand zu fragen: »Dann war das alles nur gespielt? Du hast mir die ganze Zeit über nur etwas vorgemacht?«
»Am Anfang, ja«, gestand sie. »Ich habe von dir und deinem Freund gehört. Einem schwarzen Mann, der genauso aussieht wie die drei Mörderinnen, und seinem Freund. Von zwei Fremden, die Fragen stellen. Am Anfang wollte ich euch einfach nur töten lassen, dich und Abu Dun, aber dann … dann begann ich zu hoffen, dass ihr mich vielleicht zu ihnen führt.«
»Und deshalb hast du dich an mich herangemacht?«
»Du erschienst mir als das kleinere Übel, nachdem ich dich und Abu Dun gesehen hatte«, antwortete sie, »und das sogar wortwörtlich.«
Andrej wäre beinahe aufgefahren, doch dann sah er das Glitzern in ihren Augen. Sie hatte überraschend schnell zu ihrem schelmischen Ton zurückgefunden. Er wusste nicht, ob ihm das gefiel.
»Es tut mir leid«, fuhr Corinna fort. »Ich weiß, es fällt dir schwer, mir zu glauben, aber es ist die Wahrheit. Ich habe versucht, dich zu hassen, aber ich … ich konnte es nicht. Nicht nachdem wir …«
»Willst du mir erzählen, du hättest dich in mich verliebt?«, sagte Andrej, doch weniger feindselig als eigentlich beabsichtigt.
»Und du?«, fragte sie.
Immerhin habe ich dich nicht belogen, wollte er sagen. Aber er tat es nicht, denn es hätte nicht nur billig geklungen, sondern wäre auch nicht die Wahrheit gewesen.
Schweigend zog er sich an, schlang sich als Letztes den zerfetzten Mantel um die Schultern und stellte erneut fest, in was für einem erbarmungswürdigen Zustand sich seine Kleidung befand. Er hatte nie sonderlichen Wert auf seine äußere Erscheinung gelegt, aber nun sah er aus wie ein Bettler.
Als hätte sie nun doch seine Gedanken gelesen – und vielleicht waren sie ja deutlich auf seinem Gesicht zu erkennen –, maß sie ihn einen Moment lang mit schräg gehaltenem Kopf und hob dann die Hand. »Warte!«
Mit schnellen Schritten ging sie zur Tür und wechselte einige halblaute Worte mit einem der Männer draußen.
»Nur einen Moment«, sagte sie, als sie zurückkam.
»Hast du deshalb dafür gesorgt, dass nur ich aus dem Gefängnis entlassen werde und Abu Dun nicht?«, fragte er. »Du täuschst dich in ihm, glaub mir. Er hat nichts mit dem zu tun, was hier geschehen ist. So wenig wie ich.«
»Du überschätzt meine Macht, Andrej. Rezzori ist niemand, der sich etwas befehlen ließe, nicht einmal von mir.«
»Dann hat er mich nur gehen lassen, weil er zutiefst von meiner Unschuld überzeugt ist«, sagte Andrej spöttisch.
»Er ist der Oberste der Signori«, erwiderte Corinna. »Er
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